Greta Thunberg, zum Zeitpunkt der Aufnahmen 15, später 16 Jahre alt, wirkt wie ein 12-jähriges Mädchen, das im Lauf des Films die Züge einer alten, weisen Frau annimmt. Kein Politiker kann neben ihr bestehen; die mittleren Chargen nicht, die sie auf internationalen Veranstaltungen höflich begrüßen und hofieren, schon gar nicht die Mächtigen der Welt von Putin über Bolsonaro bis Trump, die spotten und rüpeln, oder der Papst, der wie ein Opa zu ihr spricht. In der Summe sehen alle aus wie ratlose weiße Männer, die diese Welt zu lang alleine regiert haben.
Der Film I am Greta nimmt der realen Greta Thunberg gleichzeitig den Nimbus der Heilsgestalt, der jugendlichen Weltretterin. Er zeigt sie zum großen Teil im Kreis ihrer Familie, das heißt in der Hauptsache in Gesellschaft ihres Vaters, der Greta zu coachen versucht, dabei nicht immer überzeugend wirkt und auch seine Tochter nicht immer überzeugt. Eine sprechende Episode ist eine große Demonstration, während der Greta sich zu essen weigert, der Vater sie aber dazu nötigt; am Ende sieht man Greta missmutig an einer Banane knabbern. Weniger Raum nimmt die Mutter ein, gar nicht gezeigt wird die eine Schwester, die es gibt. Dafür sind zahlreiche Umarmungen, Streicheleinheiten oder auch Wünsche nach mehr Kontakt zu Haustieren zu sehen, Hunden und Pferden, den einzigen Lebewesen, zu denen Greta aktiv körperlichen und emotionalen Kontakt sucht.
Wir sehen also auf ein Kind, eingangs unterstrichen durch auffällig ins Bild gesetzte Plüschtiere in Gretas Zimmer; wir sehen ein Kind, das gern tanzt, allein und für sich. Soweit gibt Greta Thunberg das Bild eines normalen Kindes ab, allerdings eben drei bis vier Jahre jünger als sie tatsächlich ist. Diese ‚falsche’ Erscheinung der Jugendlichen scheint in einer Wachstumsstörung begründet; Greta hatte in jüngeren Jahren zeitweise die Aufnahme von Nahrung verweigert, worauf Vater und Mutter mahnend hinweisen. Ihr allgemein bekanntes Handicap, das Asperger-Syndrom, wird hingegen frontal von Vertretern der Medien thematisiert.
Die kindliche Erscheinung Gretas harmoniert in bemerkenswerter Weise mit der Überzeugungskraft ihrer öffentlichen Rede. Die Jugendliche verfügt über eine beispiellose Gabe zur Klarheit. Sie spricht kurz, ausschließlich zur Sache des Klimawandels, oft emotional. Diese authentisch wirkenden Auftritte kollidieren nicht mit dem ‚Kind’, im Gegenteil – im Sprichwort tut Kindermund die Wahrheit kund. So wirkt die Kombination von Erscheinung & Reife nicht zufällig. Wie nebenbei stellt sich diese folgenreiche Erkenntnis ein, als eine sehr junge Greta hochkonzentriert eine lange Reihe chemischer Elemente herunterrattert.
Stellt der Film Greta in neuer, überraschender Weise dar? Dagegen opponiert der Argwohn, dass es sich quasi um eine Auftragsproduktion des Vaters handelt. Greta war Kameras und Gefilmtwerden von Beginn an gewohnt; nun gewährt sie Einblicke in nahe, fast zu private Momente. Dass ein ‚Kind‘ mit langen Zöpfen der Schule fernbleibt und vor dem Parlament für die Umwelt streikt, ist per se schon eine Nachricht fürs Fernsehen. Die Idee (des Vaters) liegt nahe, einen befreundeten Profi zu bitten, das Ganze aufzunehmen, um zu sehen, was daraus werde. Die mediale Lawine, die im superheißen Sommer 2018 abging, konnten Einzelne dann aber nicht mehr steuern. ‚Greta als Film‘ ist daher zuallererst das Protokoll eines Pop-Phänomens, das sich innerhalb eines Jahres entfaltete und dem Vergleich zu den Hypes um die Beatles oder den frühen Michael Jackson durchaus standhält. Allerdings ist das Referenzphänomen ein fundamental anderes; es geht hier nicht um role models für Kinder und Jugendliche, sondern um das globale Problem des Ressourcenverbrauchs.
Dass Greta Thunberg zu dem Medienhype um sie herum oft eine Miene macht wie eine gefolterte Squaw, ist wohl weniger den Anforderungen des Rampenlichts geschuldet als der Erkenntnis, dass die Mächtigen der Welt ihr Tun und die FFF-Bewegung zur Kenntnis nehmen, aber nicht schnell und massiv genug gegensteuern. So geistert eine Maske durch diesen Film, hinter der sich ein verletztes Wesen versteckt. Einmal bricht diese Maske auf. Greta zeigt ein Gefühl, das man vor ihr bis dato nicht kannte: die Angst, die man spürt, als ihr bewusst wird, auf was sie sich mit dem Segelturn über den Atlantik eingelassen hat, um resourcenschonend zum UN-Klimagipfel zu reisen. Kritiker haben an diesem Trip eine negative Öko-Bilanz aufgemacht. Was sie nicht eingerechnet haben: Große Politik besteht heute mindestens zur Hälfte aus symbolischen Gesten. Genau sie, im Grunde nur sie, erzielen Wirkung beim Wahlvolk. Der Film I am Greta zeigt die Backstory der erfolgreichsten öffentlichen Gesten der jüngsten Vergangenheit.