FILMTIPP #44: NO COUNTRY FOR OLD MEN VON JOEL UND ETHAN COEN (USA 2007)

Auf Amazon Prime.

Filme lassen sich manchmal an einem einzigen Gegenstand identi­fizie­ren. Der Kinderwagen aus Panzerkreuzer Potemkin, der Schlitten aus Citizen Kane, die Telefonzelle in Lola rennt, der Baseballschläger der Inglorious Ba­sterds. Wie in letzterem die Sequenz vor der Höhle wird niemand, der No Coun­try for Old Men gesehen hat, den Bolzenschussapparat dieses Films vergessen und wie ihn der fin­ste­re Anton Chi­gurh (Javier Bardem) hand­habt. Wer ist dieser Mann, über dessen Herkunft und Hintergrund wir nichts erfah­ren außer, dass er von ei­nem an­de­ren, nicht ganz so schrägen “Problem­löser” als “psychopathischer Killer” be­zeich­net wird, und dass er unver­gleich­lich zielstrebig und ohne Skrupel jenen zwei Mio. Dollar aus einem schiefgelau­fenen Drogendeal nach­jagt, die den Plot befeuern?

Chigurh ist das schlechthin Böse, jedenfalls im Vergleich zu den beiden Män­nern, an denen man seinen Charakter misst. Da ist der Vietnamveteran Lle­we­lyn Moss (Josh Brolin), ebenfalls ein harter Mann, der aber immerhin Ge­fühle zu seiner Frau hat und hin und wie­der Moral zeigt, auch wenn er die zu­fäl­lig gefun­de­nen zwei Millionen mit Zäh­nen und Klauen bzw. vielerlei Waf­fen verteidigt. Und da gibt es noch den alten Sheriff Ed Tom Bell (Tom­my Lee Jones), der die Spuren der zahllosen Verbrechen all­zeit zu lesen in der La­ge scheint und sich doch nicht in den Schlund des Verderbens zie­hen lässt. Er behält seine sophistische Haltung und betrachtet die Dinge wie von außen. Bell ist die einzige wichti­ge Figur, die auf Dauer unversehrt bleibt; am Ende lä­chelt er in sich hinein, während er mit seiner Frau am Kaffeetisch sitzt.

Das Universum der Coen-Brüder ist hier durchgehend so schwarz bzw. blut­rot gemalt, dass wir vom Fortdauern des Bösen ausgehen müssen. Wie es ein Über­lebender des Holocaust in einer Dokumentation einmal in ein Gleichnis brachte: Das Böse ist auf der Welt und breitet sich von selbst aus, das Gute dagegen ist klein, man muss es hegen und pflegen und immer wie­der neu auf­bauen. Von einer solch huma­ni­sti­schen Perspektive auf die ame­ri­kanische Welt scheint No Country for Old Men weit entfernt. Ist die Grenz­region zu Me­xiko, das Un-Land für alte Män­ner, dann wenigstens ein gülti­ges Symbol für ganz Ameri­ka? Steht Javier Bardem für das dominierende Böse auf der Welt schlechthin? Wird die Waffe, die sonst Rinder und Schwei­ne tötet, zum Sym­bol für diesen einen Film? “Von Symbolik spricht man”, schreibt Rudolf Arn­heim, “wenn ein Ding oder Vor­gang durch ein an­ders­artiges Ding oder einen andersartigen Vorgang derart ersetzt wird, dass die Ersatz­darbietung Sinn und Wesen des angeschauten Wesens anschaulich macht. Der Sinn wird abgebil­det, und darin liegt schon, dass die Symbolik zumeist einen abstrak­teren Tatbestand durch einen konkreteren ersetzt.”

Was ist dann die Münze, die Chigurh seinen potentiellen Opfern an­bietet, um durch die richtige Wahl mit dem Leben davonzukommen? Sie ist, als was sie eingesetzt ist: ein Objekt, das Hochspannung erzeugt. Wir müssen gar nicht wissen, warum Anthony Chigurh so böse ge­worden ist. Denn der po­puläre Film lebt stärker von der Spannung des Moments, nicht von dessen weit­rei­chen­der, psychologischer Erklärung – das können epische Romane besser. Dage­gen kommt der Moment der Erkenntnis im Kino schlag­artig, sei es nun kog­nitiv, emotional oder viszeral: Chigurh wäre jederzeit im­stande, einen Mord zu begehen, nur weil eine Münze auf die falsche Seite fällt.

Es gibt also in aller Regel keine Symbole im Film, die von außen kommen und von vorn­he­rein festgelegt sind. In diesem Fall würde ich von Chiffren spre­chen. Filme entwickeln ihre Symbole jeweils selbst, bauen an ihrem iko­no­gra­phi­schen Repertoire, sei es nun ein Schlitten oder ein Kin­der­wagen. Und doch gibt es in No Country for Old Men mit dem altwerdenden Sheriff eine Fi­gur, die ich als Symbol im Vollzug unseres Sehens bezeichnen möch­te: Er ist einer dieser wei­ßen alten Männer, für dieses Land nichts mehr ist, die es zu lange ge­führt haben, bis an den Rand des Abgrunds, wie zuletzt ein un­ter Schimpf und Schan­de aus dem Amt gewählter Präsident bewies. Der She­riff, der dem gan­zen Treiben zusieht, es jederzeit durchschaut in all seiner Ge­walt, ohne eingreifen zu können noch zu wollen – ist er auf der Lein­wand kein Sym­bol für uns, das ergriffene und doch passive bleibende Publikum?

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