Auf Amazon Prime.
Filme lassen sich manchmal an einem einzigen Gegenstand identifizieren. Der Kinderwagen aus Panzerkreuzer Potemkin, der Schlitten aus Citizen Kane, die Telefonzelle in Lola rennt, der Baseballschläger der Inglorious Basterds. Wie in letzterem die Sequenz vor der Höhle wird niemand, der No Country for Old Men gesehen hat, den Bolzenschussapparat dieses Films vergessen und wie ihn der finstere Anton Chigurh (Javier Bardem) handhabt. Wer ist dieser Mann, über dessen Herkunft und Hintergrund wir nichts erfahren außer, dass er von einem anderen, nicht ganz so schrägen “Problemlöser” als “psychopathischer Killer” bezeichnet wird, und dass er unvergleichlich zielstrebig und ohne Skrupel jenen zwei Mio. Dollar aus einem schiefgelaufenen Drogendeal nachjagt, die den Plot befeuern?
Chigurh ist das schlechthin Böse, jedenfalls im Vergleich zu den beiden Männern, an denen man seinen Charakter misst. Da ist der Vietnamveteran Llewelyn Moss (Josh Brolin), ebenfalls ein harter Mann, der aber immerhin Gefühle zu seiner Frau hat und hin und wieder Moral zeigt, auch wenn er die zufällig gefundenen zwei Millionen mit Zähnen und Klauen bzw. vielerlei Waffen verteidigt. Und da gibt es noch den alten Sheriff Ed Tom Bell (Tommy Lee Jones), der die Spuren der zahllosen Verbrechen allzeit zu lesen in der Lage scheint und sich doch nicht in den Schlund des Verderbens ziehen lässt. Er behält seine sophistische Haltung und betrachtet die Dinge wie von außen. Bell ist die einzige wichtige Figur, die auf Dauer unversehrt bleibt; am Ende lächelt er in sich hinein, während er mit seiner Frau am Kaffeetisch sitzt.
Das Universum der Coen-Brüder ist hier durchgehend so schwarz bzw. blutrot gemalt, dass wir vom Fortdauern des Bösen ausgehen müssen. Wie es ein Überlebender des Holocaust in einer Dokumentation einmal in ein Gleichnis brachte: Das Böse ist auf der Welt und breitet sich von selbst aus, das Gute dagegen ist klein, man muss es hegen und pflegen und immer wieder neu aufbauen. Von einer solch humanistischen Perspektive auf die amerikanische Welt scheint No Country for Old Men weit entfernt. Ist die Grenzregion zu Mexiko, das Un-Land für alte Männer, dann wenigstens ein gültiges Symbol für ganz Amerika? Steht Javier Bardem für das dominierende Böse auf der Welt schlechthin? Wird die Waffe, die sonst Rinder und Schweine tötet, zum Symbol für diesen einen Film? “Von Symbolik spricht man”, schreibt Rudolf Arnheim, “wenn ein Ding oder Vorgang durch ein andersartiges Ding oder einen andersartigen Vorgang derart ersetzt wird, dass die Ersatzdarbietung Sinn und Wesen des angeschauten Wesens anschaulich macht. Der Sinn wird abgebildet, und darin liegt schon, dass die Symbolik zumeist einen abstrakteren Tatbestand durch einen konkreteren ersetzt.”
Was ist dann die Münze, die Chigurh seinen potentiellen Opfern anbietet, um durch die richtige Wahl mit dem Leben davonzukommen? Sie ist, als was sie eingesetzt ist: ein Objekt, das Hochspannung erzeugt. Wir müssen gar nicht wissen, warum Anthony Chigurh so böse geworden ist. Denn der populäre Film lebt stärker von der Spannung des Moments, nicht von dessen weitreichender, psychologischer Erklärung – das können epische Romane besser. Dagegen kommt der Moment der Erkenntnis im Kino schlagartig, sei es nun kognitiv, emotional oder viszeral: Chigurh wäre jederzeit imstande, einen Mord zu begehen, nur weil eine Münze auf die falsche Seite fällt.
Es gibt also in aller Regel keine Symbole im Film, die von außen kommen und von vornherein festgelegt sind. In diesem Fall würde ich von Chiffren sprechen. Filme entwickeln ihre Symbole jeweils selbst, bauen an ihrem ikonographischen Repertoire, sei es nun ein Schlitten oder ein Kinderwagen. Und doch gibt es in No Country for Old Men mit dem altwerdenden Sheriff eine Figur, die ich als Symbol im Vollzug unseres Sehens bezeichnen möchte: Er ist einer dieser weißen alten Männer, für dieses Land nichts mehr ist, die es zu lange geführt haben, bis an den Rand des Abgrunds, wie zuletzt ein unter Schimpf und Schande aus dem Amt gewählter Präsident bewies. Der Sheriff, der dem ganzen Treiben zusieht, es jederzeit durchschaut in all seiner Gewalt, ohne eingreifen zu können noch zu wollen – ist er auf der Leinwand kein Symbol für uns, das ergriffene und doch passive bleibende Publikum?