Auf Netflix.
In einer Woche, am 25. April, werden die Oscars verteilt, online, versteht sich. Sehr gespannt sind wir auf Nomadland, der (noch) dem Kino vorbehalten ist. Andere Wettbewerbsfilme gibt es schon im Netz zu sehen. Aus der Liste der Kandidaten für den besten Film wähle ich The Trial of Chicago 7 – nicht, weil der Film herausragend wäre, sondern weil darin gegenwärtige Tendenzen des US-Kinos versammelt sind wie unter einem Brennglas. Es scheint, als ob sich die verunsicherte, gebeutelte Nation gerade einer fragilen Identität versichere, die nicht mehr vom großen Ganzen fabuliert, das first stehe. Vielmehr geht es um ein Nebeneinander von Minderheiten. Auffällig ist, dass das Credo des Historismus, nur Geschichte sei zeitgemäß, dabei stärker zur Geltung kommt als Blicke auf die aktuelle Lage. Es gilt, genau hinzusehen, was im Rückblick als richtig und falsch verstanden wird.
Weit zurück blickt Mank, David Finchers Biographie eines Hollywoodautors: eine Nabelschau der Traumfabrik, erlesen, speziell inszeniert – und eine Mogelpackung, da von Netflix: Wohlgemerkt, wir sprechen hier in der Regel von Filmen, die fürs Kino gemacht sind. Beim Streamingdienst ist offenbar weniger das Experiment (oder die Manierismen) eines Fincher angesagt als das grand picture, in dem man blättert wie in einem Fotoalbum mit viel Patina: Retro-Szenarien, in denen sich das Böse leichter vom Guten scheiden lässt. Dabei ist die bevorzugte Geschichte jene, hat ein französischer Philosoph geschrieben, die unserem unbequemen Zeitalter um ein Kapitel vorausgeht. Gleich zwei Filme, Judas and the Black Messiah und The Trial of the Chicago 7, tangieren die Märtyrersaga des Fred Hampton: Black Panther, Aktivist und Marxist, der im Alter von 21 von einer Allianz aus Chicagoer Polizei und FBI ermordet wird. Die Zeit ist das Jahr 1969, in dem nicht nur Woodstock stattfindet, sondern auch Nixon gewählt wird. In Chicago 7 steht für diese Instanz – zeitgemäß könnte man sagen: der weiße, alte Mann, der zornig wird, wenn es nicht nach seinem Willen geht – der “ehrwürdige Richter” Julius Hoffman; eine überforderte, peinliche Autorität. Ihm gegenüber finden wir acht, später sieben Männer, die der Aufforderung zur Gewalt angeklagt sind, während des Parteitages der Demokraten in Chicago im August 1968, der eskalierte. Won’t you please come to Chicago, just to sing, war eine Haltung unter vielen, sagt der Film. Eine andere nahm der nervöse, überreagierende Staatsapparat ein.
Obwohl das Gerichtverfahren im Zentrum steht und die überzeugendste Figur der Anwalt der Angeklagten ist, ist dies kein klassisches courtyard drama; die Jury spielt z.B. keine Rolle. Es geht eher um das Porträt einer offeneren, pluralistischen Gesellschaft, verkörpert in sieben speziellen Typen: neben anderen der verkiffte, verpeilte Yippie, der pazifistische Familienvater, ein gequält wirkender, junger Tom Hayden, und, vor philosophischem Witz platzend, Abbie Hoffman, beieindruckend underplayed von Sacha Baron Cohen.
So weist der Film in eine Idealgesellschaft, die von demokratischen Werten regiert wäre. Was die Aktivisten von Chicago 7 heute täten, weiss man nicht; manche entwickelten sich anders als vorauszusehen war: Jerry Rubin wurde mit Apple-Aktien reich, Abbie Hoffman endete tragisch. Da wir uns im Reich des Kinos befinden, könnte man sich hier auch den an Demenz erkrankten Anthony Hopkins mit einer radikalen Vergangenheit vorstellen, in dem britischen Drama The Father. Die ‘Lösung’ dieses Films ist ebenfalls eine Form der Flucht: Jene überbordende Geschichte des Privaten, die man ‘ein Leben’ nennt, das in diesem Fall dem Vergessen anheimfällt.
In den 1980ern angekommen ist immerhin die koreanisch-amerikanische Familie in Minari – Wo wir Wurzeln schlagen, die sich mit ihrer Hände Arbeit mühsam in den USA assimiliert. Bis auf wenige andere Außenseiter (Sound of Metal, bereits auf Amazon Prime) und Promising Young Women bleibt es Nomadland vorbehalten, bei den diesjährigen Oscars das heutige Amerika vorzustellen: Frances McDormand fährt mit ihrem alten Van von Job zu Job und hält dem Land den Spiegel vor. Gedreht hat das Ganze ein kleines Team unter der chinesischstämmigen Chloé Zhao vor allem mit Laiendarstellern. Neorealismus, made in USA. Weit weg vom klassischen Hollywood, das sich genau durch solche Anregungen aber immer wieder erneuert.