FILMTIPP #55: THE TRIAL OF THE CHICAGO 7 VON AARON SORKIN (USA 2020).

Bildquelle: zero.eu

Auf Netflix.

In einer Woche, am 25. April, werden die Oscars verteilt, online, ver­steht sich. Sehr gespannt sind wir auf Nomadland, der (noch) dem Kino vor­be­hal­ten ist. Andere Wett­be­werbs­filme gibt es schon im Netz zu sehen. Aus der Liste der Kandidaten für den besten Film wähle ich The Trial of Chicago 7 – nicht, weil der Film herausragend wäre, sondern weil darin ge­gen­wär­ti­ge Ten­denzen des US-Kinos versammelt sind wie unter einem Brennglas. Es scheint, als ob sich die verunsicherte, gebeutelte Nation gerade einer fragilen Iden­tität versichere, die nicht mehr vom großen Gan­zen fa­bu­liert, das first stehe. Vielmehr geht es um ein Nebeneinander von Min­der­hei­ten. Auf­fällig ist, dass das Credo des Historismus, nur Ge­schich­te sei zeit­ge­mäß, dabei stärker zur Geltung kommt als Blicke auf die aktuelle Lage. Es gilt, genau hinzusehen, was im Rückblick als rich­tig und falsch ver­stan­den wird.

Weit zurück blickt Mank, David Finchers Biographie eines Hollywoodau­tors: eine Nabelschau der Traumfabrik, erlesen, speziell inszeniert – und eine Mogelpackung, da von Netflix: Wohlgemerkt, wir sprechen hier in der Regel von Filmen, die fürs Kino gemacht sind. Beim Streamingdienst ist offenbar we­niger das Experi­ment (oder die Ma­nierismen) eines Fincher an­gesagt als das grand pic­ture, in dem man blät­tert wie in einem Fotoalbum mit viel Pa­tina: Retro-Sze­narien, in denen sich das Böse leichter vom Guten schei­den lässt. Dabei ist die bevor­zug­te Ge­schich­te jene, hat ein fran­zö­si­scher Philo­soph ge­schrie­ben, die unserem unbequemen Zeitalter um ein Kapitel vor­aus­geht. Gleich zwei Fil­me, Judas and the Black Messiah und The Trial of the Chi­ca­go 7, tan­gieren die Mär­ty­rer­saga des Fred Hampton: Black Panther, Ak­tivist und Mar­xist, der im Alter von 21 von einer Allianz aus Chicagoer Polizei und FBI er­mordet wird. Die Zeit ist das Jahr 1969, in dem nicht nur Woodstock statt­fin­det, son­dern auch Nixon ge­wählt wird. In Chicago 7 steht für diese In­stanz – zeitge­mäß könn­te man sagen: der weiße, alte Mann, der zornig wird, wenn es nicht nach seinem Willen geht – der “ehrwürdige Rich­ter” Julius Hoffman; eine über­for­derte, peinliche Autorität. Ihm gegenüber finden wir acht, spä­ter sie­ben Män­ner, die der Aufforderung zur Gewalt ange­klagt sind, wäh­rend des Par­teitages der Demokraten in Chicago im August 1968, der eskalierte. Won’t you please come to Chicago, just to sing, war eine Haltung unter vielen, sagt der Film. Eine andere nahm der nervöse, überreagierende Staatsapparat ein.

Obwohl das Gerichtverfahren im Zentrum steht und die über­zeugendste Figur der Anwalt der Angeklagten ist, ist dies kein klassisches courtyard dra­ma; die Jury spielt z.B. keine Rolle. Es geht eher um das Porträt einer offe­ne­ren, plu­ra­listischen Gesellschaft, ver­körpert in sieben speziellen Typen: ne­ben ande­ren der verkiffte, verpeilte Yippie, der pazifistische Familien­vater, ein ge­quält wirken­der, jun­ger Tom Hayden, und, vor philoso­phi­schem Witz plat­zend, Abbie Hoffman, beiein­dru­ckend underplayed von Sacha Baron Cohen.

So weist der Film in eine Idealgesellschaft, die von demokrati­schen Wer­ten regiert wäre. Was die Aktivisten von Chicago 7 heute täten, weiss man nicht; manche entwickelten sich anders als voraus­zu­sehen war: Jerry Rubin wurde mit Apple-Aktien reich, Abbie Hoff­man en­dete tragisch. Da wir uns im Reich des Kinos befinden, könnte man sich hier auch den an De­menz erkrankten An­tho­ny Hopkins mit einer radikalen Vergan­gen­heit vor­stellen, in dem bri­tischen Drama The Father. Die ‘Lösung’ die­ses Films ist ebenfalls eine Form der Flucht: Jene über­bor­dende Ge­schichte des Privaten, die man ‘ein Leben’ nennt, das in diesem Fall dem Vergessen an­heimfällt.

In den 1980ern angekommen ist immerhin die koreanisch-amerikanische Fa­milie in Minari – Wo wir Wurzeln schlagen, die sich mit ihrer Hände Ar­beit müh­sam in den USA assimiliert. Bis auf wenige andere Außen­seiter (Sound of Metal, bereits auf Amazon Prime) und Promising Young Women bleibt es Nomad­land vorbehalten, bei den dies­jährigen Oscars das heutige Amerika vorzustellen: Frances McDormand fährt mit ihrem alten Van von Job zu Job und hält dem Land den Spiegel vor. Gedreht hat das Ganze ein kleines Team unter der chinesischstämmigen Chloé Zhao vor allem mit Lai­en­dar­stel­lern. Neo­realis­mus, made in USA. Weit weg vom klassischen Hol­ly­wood, das sich genau durch solche Anregungen aber immer wieder erneuert.

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