Nach längerer Exposition startet die eigentliche Erzählung harmlos, in einer Rückblende. Sechs Monate vor der großen Show. Die prominente und doch zugewandte Gastgeberin hat 30 junge Leute vielerlei Herkunft in ihr Haus im ländlichen Staat New York eingeladen. Gemeinsam wird gekocht und gescherzt. Klar ist aber, dass man nicht zum Vergnügen zusammengekommen ist: Ein großes Projekt will vorbereitet sein, das 40jährige Jubiläum der Kunstschaffenden Marina Abramović (geb. 1946), ausgerichtet vom Museum of Modern Art. Die Nachwuchskünstler sind ausgewählt, um frühere Performances der Künstlerin nachzustellen. Abramović’ Stimme ist bereits hier die Voice-over des Films und somit Sinngeberin & Master of Ceremonies.
Es sollen menschliche Stellvertreter agieren an dem Ort, an dem Künstler sonst durch Bilder oder Skulpturen vertreten werden. Die Retrospektive heißt aber The Artist is present, und das bedeutet: Auch Abramović, in jenem Jahr 63 Jahre alt, sitzt die gesamte Zeit der Schau über jeden Tag auf einem Stuhl; vis-a-vis ein/e Freiwillige/r, immer so lange er/sie jeweils will. Die beiden blicken sich an. Nichts weiter geschieht, außer auf den Gesichtern der Besucher. Für Abramović fallen in der Summe 736,5 Stunden an. Eine ungeheure Energieleistung der Performerin, ein neues Kapitel in ihrem Werk.
Nach genau einer Stunde Filmzeit nimmt Ulay Platz, der alte Weggefährte, mit dem zusammen Abramovíc legendäre Performances gestaltet hat. Von Provokation, Gefährdung von Körpern und Sitten ist nichts mehr da. Ulay, gebürtig Frank Uwe Laysiepen (1943-2020), ist nur noch der Ex-Liebhaber und Freund. Von den Kommunikationspausen zwischen beiden, von bösen juristischen Auseinandersetzungen, ist nicht mehr das Geringste zu ahnen. Die Romanze siegt. In der Perfo-Romance laufen bei Marina die Tränen.
“Media Performance Artist” wäre die richtige Bezeichnung für das, was Ulay und Abramović einst zur Reife gebracht haben. Das bedeutet in Kurzform: live und medial. Der Live-Anteil war immer provokant im Ausloten dessen, was man sich und seinem/ihrem Körper an Grenzerfahrung zumuten kann: massive Kasteiung, Nacktheit, Gewalt. Ein Teil war auf den medialen Effekt hin entworfen, auf Empörung, Entrüstung, mindestens Verwunderung in größerem Kontext und beim großem Publikum. Und ist damit dem Kino nicht mehr fern. Nur der Kontext ist noch ein anderer, hier die Galerie und das “heilige” Museum, dort der kommerziell-kommunikative Ort.
Ulay und Abramović haben viel von den Wiener Aktionisten gelernt. Ihre eigenen Aktionen waren aber weniger gesellschaftliche Provokation, eher ein Ausloten der Möglichkeiten, ein Spiel mit sich selbst als Medien, die wiederum als Erscheinung nach außen kommunizieren. Das ist der Schlüssel noch für die Aktion The Artist is present. Mal wirkt Abramović hier wie eine Schlange, die ihr Gegenüber hypnotisiert, bevor sie es verspeist, mal wieder scheint sie selbst die Emotionen zu haben, die sie beim Anderen auslöst: Staunen über den zweifelhaften Widerschein der Erfahrung, medial im Mittelpunkt zu stehen. Mit anderen Worten, die anwesende Künstlerin ist mehr als ein Spiegel, sie ist ein fleischgewordenes Medium. Und sitzt doch live da.
Die Gruppe um Abramović herum wird als eingeschworenes Kollektiv vorgeführt. Klaus Biesenbach hat eine grauenhafte Aussprache des Englischen, was aber zählt: Er ist ein sehr erfolgreich im Museumsgeschäft, sagt kluge Dinge über Kunst und beweist nebenbei die Einsicht, dass Kollektive optimal funktionieren, wenn an jeder Stelle die Person steht, die ihren Job am besten kann. Artur Danto, der Philosoph, ist fast sprachlos ob der scheinbar selbst-evidenten Kunst der Abramovíc. Dafür ist das Museum umso cleverer einbezogen. Ein wichtigere Rolle als der Philosoph hat der Sicherheitschef des MoMA inne, der jede Gefahr abwehrt, die der Performerin droht.
Das Museum ist, anders als das Kino, der Ort, an dem der Kunst einiges ihrer Attraktivität genommen wird. Paul Valéry: “Ich liebe Museen nicht sonderlich. Es gibt viele, die man bewundern kann, es gibt keines, das einem Wonnen schenkte. Was an Vorstellungen über Ein- und Zuordnung, Erhaltung und Nutzen für die Allgemeinheit umläuft, ist einleuchtend, hat aber mit Spendung von Wonnen nichts zu tun.” Die Ausstellung The Artist is present widersprach diesem harten Urteil: Sie hat denjenigen unter ihren 750.000 Besuchern, die das wollten, intellektuelle Wonnen verschafft.