Eine Chance, den Geheimnissen großer Filme auf die Spur zu kommen, bieten die sogenannten Extras auf DVD oder Blu-ray. Für David Finchers Se7en (1995) hält die Special Edition allein vier verschiedene Audio-Kommentare bereit, sieben am Ende nicht verwendete Szenen, animierte Storyboards und weiteres Bonusmaterial. Das Studium dieser Add-ons braucht naturgemäß einiges Spezialinteresse. Mag man es konventioneller, kann man zu der ausgezeichneten kleinen Monographie greifen, die Richard Dyer für das British Film Institute veröffentlicht hat.
Das Großartige an Se7en ist, dass man das alles im Grunde gar nicht braucht. Der Film selbst ist völlig klar; er bietet seine Geheimnisse ganz offen an – ohne dass er beim ersten Sehen auch nur einen Moment lang trivial oder vorhersehbar daher käme. Was der besonnene Detektiv Sommerset (Morgan Freeman) mühsam herausbuchstabieren muss, durch einen langen Besuch einer Bibliothek und ergänzt durch ein sehr breitgefächertes kulturelles Wissen, was dem Zuschauer erst in seiner letzten, überraschenden und höchst schockierenden Konsequenz in den letzten Minuten des Films klar wird – das eröffnet der Blick auf ein einziges Bild: Der Film orientiert sich an den “Sieben Todsünden”, mehr noch, er entwickelt aus dem moralischen Dogma der Katholischen Kirche seine Struktur. Inspiriert ist er weiter durch Dantes Divina Commedia sowie das Purgatorium, die Canterbury Tales von Chaucer, Shakespeares Kaufmann von Venedig. Entscheidend ist dennoch der phänomenale Unterschied: Letztere sind in Worte gefasste Modelle zur Strukturierung der Welt. Der Film arbeitet mit einer sinnlichen Aura, deren ästhetische Aneignung die Welt ebenfalls erfassbar und interpretierbar macht. Und eben den genannten Vorteil: Eine solche Struktur, ein Bild, ist Menschen auch ohne Studium zugänglich, was erst einmal den Gläubigen im Mittelalter zugute kam, die in großer Mehrheit nicht lesen konnten und damit eine Kultur des Bildes notwendig machten, die uns noch heute prägt.
Der Blick auf ein Bild, auf Bilder also. Als erster Helfer bietet sich hier die Tafel von Hieronymus Bosch im Prado in Madrid an (s. Abb.); sie zeigt als Tondo, als kreisrundes Bild, in emblematischen Einzelszenen vieles von dem, was die Kirche im Mittelalter als Grundübel ansah und den Menschen untersagen wollte (beginnend unten rechts, mit superbia): den Hochmut, dann die Wollust (luxuria, auch Genußsucht), die Trägheit (acedia), die Völlerei (gula), die Habgier (avaritia), den Neid (invidia) und den Zorn (ira). Annähernd in diese Reihenfolge bringt der serial killer von Se7en seine Taten– sieben Morde innerhalb einer Woche, motiviert durch gluttony/Fresssucht, greed/Gier, sloth/Trägheit, lust/Sexsucht, pride/Hochmut, envy/Neid und wrath/Zorn. Man sieht, wenig musste aktualisiert werden, um in unsere Zeit zu passen.
Ist das, was John Doe (Kevin Spacey) in der vielgelobten graphischen Titelsequenz als Konzept in ein dickes Scrapbook einträgt, bevor er seine Taten praktisch auszuführen beginnt, Kunst? Ist John Doe ein evil artist? Man muss hier nur einen Moment lang an den Komponisten Karlheinz Stockhausen denken, der die Anschläge des 11. September als größtes denkbares Kunstwerk bezeichnet hat, um das Problematische der Idee zu erkennen. Kunst war, ist und sollte an Weltliches gebunden sein, um uns Menschen bei der Bewältigung der Realität zu helfen. Die alte, mimetische Kunst macht es uns vor. Dazu gehört auch noch der Film als Kunstgattung. Erst nach ihm kam die Wende zum Konzept, die sich von der anschaulichen Wahrnehmung entfernte und doch ganz sicher auch ihre Berechtigung hat.
Wer also ist der Künstler von Se7en? David Fincher natürlich, mit seinen Langfilmen zwei und drei (Fight Club) mit einem Mal der heißeste Regisseur an der Jahrtausendwende. Und natürlich der Mann, der sich alles ausgedacht hat, der Drehbuchautor Andrew Kevin Walker. Er ist kurz im Film zu sehen: der Dreizentnertyp, der eingangs mit dem Kopf in einem Teller Spaghetti gefunden wird.