So viel Soul in einer Stimme gab es nicht mehr seit Ella Fitzgerald und Shirley Bassey.Gäbe es kein Foto von Amy Winehouse, würde man sich vielleicht eine ältere, etwas füllige, dunkelhäutige Sängerin vorstellen. Doch Amy war das Kind einer jüdischen Familie aus dem Londoner Norden. Von klein auf wollte sie Sängerin werden, und so erlebt man in der ersten Sequenz die Geburtsstunde der Performerin auf einem Kindergeburtstag. Wenn sie „Happy Birthday“ intoniert, ahnt man den Weg entweder zur großen Karriere oder zum großen Scheitern. Amy Winehouse hat beides geschafft. Am Ende des dokumentarischen Films, der anders ist als die meisten dokumentarischen Filme, steht der Auftritt im Belgrader Kalemegdan Park, drei Monate vor ihrem Tod, bei dem sie betrunken auf der Bühne herumwankte, sich an Bandmitglieder klammerte und lange einfach dasaß. 20.000 Besucher johlten, wollten Musik oder ihr Geld zurück. Und alle zückten irgendwann ihr Handy.
Kapadia hat für seinen Film nachträglich nur Aufnahmen von Locations beigesteuert, meist von Drohnen, deren Bilder aus der Textur des Films herausstechen. Amy wurde lange nach dem Ableben der Sängerin im Juli 2011 begonnen. Die Leistung des pakistanisch-britischen Regisseurs besteht darin, durch sorgfältige Recherchen Material zu finden, das andere noch gespeichert hatten, und sich dafür die Rechte zu sichern. Kein einfaches Unterfangen, wenn man sieht, wie schlecht besonders Vater und Ehemann Winehouse am Ende wegkommen. Kapadia filmt also nicht, er kompiliert; er verdichtet nicht durch den Schnitt, er reiht das Material chronologisch aneinander. Interviews sind als Voice-over hinterlegt. Das Ganze wird zum Bericht, dessen Objektivität, soweit es geht, durch Bilder und Zeugen abgesichert ist. Dagegen gibt es keine offene Wertung des Regisseurs: Von seiner Seite kommen lediglich eingeblendete Namen, Funktionen, Daten und Songtexte.
2001 wird Amy von einem Talentscout entdeckt. Es gibt Probeaufnahmen, bei denen sie schon in jedes hingehaltene Handy spricht. So kann sie noch postum zur Erzählerin ihres Aufstiegs werden. Die persönlichsten Beziehungen gießt sie in Songs. Der Film liefert die Illustrationen nach, soweit vorhanden. Die Attitüde ist nicht die der Singer-Songwriterin, die in der Musik Privates nach außen kehrt; alles wird veräußerlicht, transformiert in wackelnde, persönliche Bilder. Für Winehouse gab es keinen Unterschied zwischen on- und off-record. My destructive side / Has grown a mile wide heißt es auf ihrem ersten Album.
Von Back to black gibt es einen hinreißenden Take im Studio, in dem Amys Stimme a capella zu hören ist. In der Hand hat sie ihr Handy. Wie für viele Jüngere war das für sie viel mehr als ein Telefon; es diente als Kontakt zur Welt, vor allem wohl als Nachweis, am Geschehen überhaupt teilzunehmen: eine Art Versicherung, auf dieser Welt zu sein.
Ein entscheidender Sprung der Karriere ist der Sprung nach Amerika, das Winehouse mit offenen Armen empfängt, allerdings auch auf jeden Skandal oder Skandalträchtiges anspringt. I told you / I was trouble, singt sie jetzt. Das sollte sich rächen. Mittlerweile verheiratet, beginnen Experimente mit Crack, Kokain, Heroin. Erste Auftritte gehen schief, der Erfolg fordert seinen Tribut. Die Familie drängt darauf, dass sie Verpflichtungen zu Auftritten erfüllt, statt sich nachhaltig um die Gesundheit zu kümmern. Dabei gibt es durchaus Schönes: Das Duo für ein Album Tony Bennetts in den Abbey Road Studios, mit einer vor Ehrfurcht fast erstarrenden Amy, gehört zu den wenigen Momenten, in denen eine schüchterne Seite der Sängerin zum Vorschein kommt. Kurz vorher war sie fast schon am Ende und wieder das hilflose Kind, im Kreis der Familie, in einem Ressort der Karibik, wo sie sechs ganze Monate bleibt. Auch hier braucht es keine Paparazzi. Die Familie ist ja da.
Ich habe Amy zum ersten Mal in einem winzigen Kino gesehen, zusammen mit etwa anderen 50 Besuchern. Der Film hatte begonnen, als noch einmal vier Zuschauer dazukamen, ein Ehepaar, wie sich herausstellte, mit zwei erwachsenen Söhnen. Gemeinsam nahm man vor mir in der ersten Reihe Platz und begann sofort, das von der Leinwand Kommende gut hörbar zu kommentieren und zu interpretieren. Zuerst war das ärgerlich. Dann wurde mir klar, dass hier die Geschichte eines Familienverbundes belebt wurde, emotional und im Abgleich, ob man im ursprünglichen Zusammenhang auch so oder anders erlebt und wahrgenommen habe. Meine Aufmerksamkeit teilte sich fortan zwischen dem, was vorne auf der Leinwand los war, und eben vor ihr, in der ersten Reihe: eine wundersame Lektion des Kinos, wie ein paar Menschen über den Umweg des Mediums und einer medialen Figur zu einer neuen, momentanen Gemeinsamkeit fanden. Wir Filmfreunde haben versucht, eine ähnliche Intimität in der einladenden Halle eines Winzerbetriebs herzustellen.