FILMTIPP #80: WALCHENSEE FOREVER VON JANNA JI WONDERS (D 2020) UND HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE (2021) VON MARIA SPETH. BEIDE FILME LAUFEN DIESE WOCHE BEI filmz – FESTIVAL DES DEUTSCHEN KINOS IN MAINZ: WALCHENSEE FOREVER AM 06.11. UM 19:00 UHR IM CAPITOL, HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE AM 11.11. UM 18:00 UHR IM CINÉMAYENCE.

Foto: Screenshot.

Ein Café in Oberbayern, gelegen in unheimlich schöner Landschaft: der Walchensee, für immer geprägt durch den expressionistischen Maler Lovis Corinth. Hier leben im Lauf der Jahre vier Generationen: Uroma, Oma, Mutter, Tochter – letz­tere die Filme­ma­che­rin, die selbst auch schon ein Baby hat. Eine deutsche Fa­mi­lien-, Kultur- und Mediengeschichte, von etwa 1920 an, ein Jahrhundertporträt in vier Frauenleben. Wie es erzählt ist, kann nur ein Film erzählen.

Die Uroma, von der nur ein paar Bewegtbilder existieren: hochgesteckte Haare, ein neu­gieriges, lebendiges Gesicht, wohl eher eine extrovertierte Frau. Ihre Tochter, die Oma – das Ge­gen­teil, zurückhaltend bis wortkarg, das Leben lang fleißig. Sie wird 104 Jahre alt wer­den, schwerhörig und schwer zugänglich, das Gesicht voller Warzen und Räude; es sieht fast so aus, als hätten sich die Ent­täu­schun­gen des langen Lebens auf ihr festgesetzt. Den entscheidenden Knacks hat dieses Leben 1945 erhalten: Der aus dem Krieg heim­gekehrte Mann zeugt zwei Kinder und ver­lässt die Familie, um nur noch Künstler und Fo­to­graf zu sein. Die beiden Töchter, früh renitent, kommen in den Fokus. Die ältere, Anna, wendet sich bald von zuhause ab, lebt zeit­weise im Um­kreis Münch­ner Kom­mu­narden – ein ge­wisser Rainer Langhans kommt zu Wort –, kehrt an den Walchen­see zu­rück und ist auch zur eigenen Tochter meist miss­mu­tig. Anna trägt den ver­lo­renen Elan des einstigen Auf- und Ausbruchs wie einen Mangel vor sich her.

Einigen Anteil hat daran die jüngere Schwester Frauke. Sie erscheint als Geist, im Be­wegtbild, im Foto und als Stimme; Frauke ist lange schon tot, ge­stor­ben aus freiem Wil­len am Steuer eines Autos, das sie gegen einen Baum lenkte. In der Familie wurde im­mer gefilmt und fotografiert, so dass Frauke sehr präsent wird. Sie war die of­fenere, dem Le­ben zugewandtere, vom Vater mehr geliebt, von der Schwester beneidet, die den Verlust dann doch nie verwinden konnte. Eine Reise nach Süd­amerika, wo die Schwe­stern in Me­xi­ko mit Hackbrett und Gitarre als jodelnde Sensation auftreten, markiert das Maximum an Freiheit, das Frauke mehr leben konnte und Anna weniger. Freiheit geht selbst­bestimmt und doch in Einklang mit anderen – das ist so etwas wie die Lehre dieses Films, der nicht zuletzt das Fehl­gehen mancher Wünsche der 68er-Generation illustriert.

Dass die 68er nicht in allem gescheitert sind, dass sich aus der genommenen oder er­kämpften Freiheit auch Großartiges entwickeln konnte (und kann), legt aufs Schönste ein weiterer Dokumentarfilm nahe, Herr Bachmann und seine Klasse. Dieter Bachmann ist Lehrer an einer Hauptschule im Mittelhessischen und im Jahr der Aufnahmen 64 Jahre alt. Er leitet seine letz­te Klasse, die 6b. Lehrer war Bach­mann nur 16 Jahre seines Lebens; das heißt, er hat auch an­deres gearbeitet und vermutlich einiges aus­pro­biert. Vom Privatmenschen Bachmann erfährt man nicht viel, und wenn, sind es Anekdoten. Ein­mal erlebt man ihn im wort­kargen Dialog mit einem befreundeten Bildhauer und wird bestärkt in dem Ein­druck, der Bach­manns Umgang mit den Jugendlichen prägt: Dieser Mann schöpft aus einer großen Erfahrung und nimmt doch jeden Tag, jede Situation als eine neue Heraus­for­de­rung. Und stellt sich dabei immer auf dieselbe Stufe wie sein Gegenüber.

Fast alle Schülerinnen und Schüler von Herrrn Bachmann sind nicht in Deutsch­land geboren. Sie befinden sich in unterschiedlichen Stadien der Integration – ein Wort, das Dieter Bachmann nicht mag. Jaime weigert sich, ande­ren Schülern zu helfen, sie seien für ihre schlechten Noten selbst verantwort­lich; Anastasia ist die Klassenbeste und passt sich dafür total an; Ferhan trägt Kopftuch und be­deckt sich, als sie das Tuch einer Freundin leiht, mit der Kapuze ihres Anoraks. Cengiz­han hält nie still, ist vorlaut und doch seltsam liebenswert. Leid kann ei­nem der schüch­terne, kaum selbstbewusste Tim tun, das wird in dem einem Jahr, in dem Maria Speth die 6b wiederholt besucht hat, nicht anders. Man lernt all diese Kin­der zu mögen, selbst wenn man sie des öfteren schütteln könnte, wohl weil ihr Lehrer die Fähigkeit hat, das Beste aus ihnen herauszubringen, ohne sie in irgend­einer Weise klein zu machen. Wenn Eltern und Geschwister im Schulalltag auf­tau­chen, merkt man, dass im Hintergrund andere Herausforderungen war­ten. Dass aus­ge­rech­net Schule befreiend wirken kann, hat man selten so plastisch erlebt.

Musikmachen spielt ein große Rolle im Unterricht von Herrn Bachmann; gemein­sam musizieren, in tune miteinander sein, selbst wenn die Fähigkeiten dazu nur im Keim vorhanden sind, ist vielleicht das Geheimnis dieses Lehrers. Den Vater der aus Bulgarien zu uns gekommenen Stefi überzeugt er, indem er die Tochter in der Sprechstunde inbrünstig ein bulgarisches Lied vorsingen lässt. Aus Bulgarien kommt am Ende auch die schönste Liebesgabe dieses Films. Und wenn Stefi im Duett mit Dieter Bachmann “Und wenn ein Lied deine Lippen verlässt” vorträgt, verdient sich der Film einen weiteren Superlativ: Noch nie ist ein Lied von Xavier Naidoo bei mir so sympathisch rübergekommen.

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