Ein Café in Oberbayern, gelegen in unheimlich schöner Landschaft: der Walchensee, für immer geprägt durch den expressionistischen Maler Lovis Corinth. Hier leben im Lauf der Jahre vier Generationen: Uroma, Oma, Mutter, Tochter – letztere die Filmemacherin, die selbst auch schon ein Baby hat. Eine deutsche Familien-, Kultur- und Mediengeschichte, von etwa 1920 an, ein Jahrhundertporträt in vier Frauenleben. Wie es erzählt ist, kann nur ein Film erzählen.
Die Uroma, von der nur ein paar Bewegtbilder existieren: hochgesteckte Haare, ein neugieriges, lebendiges Gesicht, wohl eher eine extrovertierte Frau. Ihre Tochter, die Oma – das Gegenteil, zurückhaltend bis wortkarg, das Leben lang fleißig. Sie wird 104 Jahre alt werden, schwerhörig und schwer zugänglich, das Gesicht voller Warzen und Räude; es sieht fast so aus, als hätten sich die Enttäuschungen des langen Lebens auf ihr festgesetzt. Den entscheidenden Knacks hat dieses Leben 1945 erhalten: Der aus dem Krieg heimgekehrte Mann zeugt zwei Kinder und verlässt die Familie, um nur noch Künstler und Fotograf zu sein. Die beiden Töchter, früh renitent, kommen in den Fokus. Die ältere, Anna, wendet sich bald von zuhause ab, lebt zeitweise im Umkreis Münchner Kommunarden – ein gewisser Rainer Langhans kommt zu Wort –, kehrt an den Walchensee zurück und ist auch zur eigenen Tochter meist missmutig. Anna trägt den verlorenen Elan des einstigen Auf- und Ausbruchs wie einen Mangel vor sich her.
Einigen Anteil hat daran die jüngere Schwester Frauke. Sie erscheint als Geist, im Bewegtbild, im Foto und als Stimme; Frauke ist lange schon tot, gestorben aus freiem Willen am Steuer eines Autos, das sie gegen einen Baum lenkte. In der Familie wurde immer gefilmt und fotografiert, so dass Frauke sehr präsent wird. Sie war die offenere, dem Leben zugewandtere, vom Vater mehr geliebt, von der Schwester beneidet, die den Verlust dann doch nie verwinden konnte. Eine Reise nach Südamerika, wo die Schwestern in Mexiko mit Hackbrett und Gitarre als jodelnde Sensation auftreten, markiert das Maximum an Freiheit, das Frauke mehr leben konnte und Anna weniger. Freiheit geht selbstbestimmt und doch in Einklang mit anderen – das ist so etwas wie die Lehre dieses Films, der nicht zuletzt das Fehlgehen mancher Wünsche der 68er-Generation illustriert.
Dass die 68er nicht in allem gescheitert sind, dass sich aus der genommenen oder erkämpften Freiheit auch Großartiges entwickeln konnte (und kann), legt aufs Schönste ein weiterer Dokumentarfilm nahe, Herr Bachmann und seine Klasse. Dieter Bachmann ist Lehrer an einer Hauptschule im Mittelhessischen und im Jahr der Aufnahmen 64 Jahre alt. Er leitet seine letzte Klasse, die 6b. Lehrer war Bachmann nur 16 Jahre seines Lebens; das heißt, er hat auch anderes gearbeitet und vermutlich einiges ausprobiert. Vom Privatmenschen Bachmann erfährt man nicht viel, und wenn, sind es Anekdoten. Einmal erlebt man ihn im wortkargen Dialog mit einem befreundeten Bildhauer und wird bestärkt in dem Eindruck, der Bachmanns Umgang mit den Jugendlichen prägt: Dieser Mann schöpft aus einer großen Erfahrung und nimmt doch jeden Tag, jede Situation als eine neue Herausforderung. Und stellt sich dabei immer auf dieselbe Stufe wie sein Gegenüber.
Fast alle Schülerinnen und Schüler von Herrrn Bachmann sind nicht in Deutschland geboren. Sie befinden sich in unterschiedlichen Stadien der Integration – ein Wort, das Dieter Bachmann nicht mag. Jaime weigert sich, anderen Schülern zu helfen, sie seien für ihre schlechten Noten selbst verantwortlich; Anastasia ist die Klassenbeste und passt sich dafür total an; Ferhan trägt Kopftuch und bedeckt sich, als sie das Tuch einer Freundin leiht, mit der Kapuze ihres Anoraks. Cengizhan hält nie still, ist vorlaut und doch seltsam liebenswert. Leid kann einem der schüchterne, kaum selbstbewusste Tim tun, das wird in dem einem Jahr, in dem Maria Speth die 6b wiederholt besucht hat, nicht anders. Man lernt all diese Kinder zu mögen, selbst wenn man sie des öfteren schütteln könnte, wohl weil ihr Lehrer die Fähigkeit hat, das Beste aus ihnen herauszubringen, ohne sie in irgendeiner Weise klein zu machen. Wenn Eltern und Geschwister im Schulalltag auftauchen, merkt man, dass im Hintergrund andere Herausforderungen warten. Dass ausgerechnet Schule befreiend wirken kann, hat man selten so plastisch erlebt.
Musikmachen spielt ein große Rolle im Unterricht von Herrn Bachmann; gemeinsam musizieren, in tune miteinander sein, selbst wenn die Fähigkeiten dazu nur im Keim vorhanden sind, ist vielleicht das Geheimnis dieses Lehrers. Den Vater der aus Bulgarien zu uns gekommenen Stefi überzeugt er, indem er die Tochter in der Sprechstunde inbrünstig ein bulgarisches Lied vorsingen lässt. Aus Bulgarien kommt am Ende auch die schönste Liebesgabe dieses Films. Und wenn Stefi im Duett mit Dieter Bachmann “Und wenn ein Lied deine Lippen verlässt” vorträgt, verdient sich der Film einen weiteren Superlativ: Noch nie ist ein Lied von Xavier Naidoo bei mir so sympathisch rübergekommen.