Die Saga um Hannibal Lecter lässt sich auf zwei Arten sortieren. Das Erscheinen der Romane von Thomas Harris gibt die chronologische Abfolge vor: Anfangs ist Lecter nur eine Randfigur, ein Experte, der einem psychisch angeschlagenen, aus- und wieder eingestiegenem Profiler des FBI bei der Suche nach einem psychopathischen Serienmörder mit Wissen und Geist zur Seite steht. Das Buch hieß Red Dragon (Roter Drache, 1981), dem der Roman The Silence of the Lambs (1988) folgte. Mit ihm wurde die Figur Lecters prominent; der Erfolg von Jonathan Demmes Film von 1991 verstärkte den Effekt vielfach. Der hypergefährliche Kannibale, geniale Denker und Semi-Aufklärer rückte ins Zentrum, im Verbund mit einer jungen Ermittlerin, die in Hannibal so etwas wie ihren Mentor findet. Im Nachgang zu Silence folgten die Romane Hannibal (1999) und Hannibal Rising (2006), die ebenfalls zu Filmen wurden.
Aus der erzählten Fiktion ergibt sich eine andere Reihenfolge, die zuletzt an den Anfang zurückkehrte und mit Hannibals Entwicklung in jungen Jahren beginnt. In Hannibal Rising wird die Genese von Hannibals Trauma sowie seine Abstinenz von sexuellen Beziehungen begründet. In kleinerem Maßstab geht es hier auch um die Errichtung eines „Gedächtnispalastes”, Hannibals Faible für abgeschnittene Köpfe und deren Konservierung, Dr. Lecktors (sic) beruflichen Werdegang und insgesamt darum, wie diese Figur zu dem wurde, was sie (vorerst) war. „Sie wollen wissen, was er jetzt ist?”, fragt der ermittelnde Polizist im Roman. “Ich würde sagen, dafür gibt es noch kein Wort. In Ermangelung einer besseren Bezeichnung werden wir ihn ein Monster nennen.”
Michael Mann, der Regisseur von Manhunter (1986), nahm im ersten Film der Serie die Konstellation seines späteren großen Kino-Erfolgs Heat (1995) vorweg: Männer, die sich in der Verstrickung im Verbrechen ineinander ‘spiegeln’, der eine auf der Seite des Gesetzes, der andere außerhalb, und die beide bereit sind, für ihre Passion alles zu geben, selbst zum Preis des eigenen Untergangs. Mann inszenierte das Ganze im Stil seiner Herkunft als Regisseur der von ihm geprägten TV-Serie Miami Vice. Bärtige, virile Cops, Heavy-Synthi-Sound, weiße Schleiflackinterieurs in blauem Mondlicht – diese visuelle Ikonographie ist die Basis von Manns Film. Hinzu kommen, teils aus dem Buch, teils aus Manns Schöpfergeist, neue, erstaunliche Bilder, wie sie generell die Serie prägen. Das beeindruckendste dieser Bilder sei hier beschrieben: Der gesuchte Mörder, “Zahnfee” genannt, weil er leicht hervorstehende Eckzähne hat, hat sich verliebt, in eine blinde Frau, die als Fotolaborantin arbeitet und für sensuelle Erlebnisse auf Berührungen angewiesen ist. Er beobachtet, wie sie versunken, fasziniert und fast zärtlich das Fell eines riesigen narkotisierten Tigers streichelt. Wenige Moment zuvor hatte man die gewaltigen Eckzähne des Tigers gesehen. Die Anspielung ist deutlich: hier die Bestie, dort der schöne, unschuldige Mensch, die Frau.
Ich musste mich lange mit Silence of the Lambs beschäftigen, ehe ich auf für diesen Film geeignete Referenzbilder stieß. Manhunter wirkt an vielen Stellen bereits wie der Blueprint für Silence of the Lambs. Wie beim späteren Mega-Erfolg auch geht ein zentrales Motiv auf Malerei zurück, hier auf die Kunst der Symbolisten und ihrer Vorgänger. Dort gibt es das Schlüsselbild häufig: Es ist die dahingestreckte, wehrlose „weiße Frau“ im Sinne Klaus Theweleits, über die ein Monster, ein Dämon, eine Bestie wacht und regiert. William Blakes „Der große rote Drache und die in die Sonne gehüllte Frau“ (um 1806) spielt im ersten Manhunter sogar mit: die „Zahnfee“ zeigt das Bild einem Opfer zur Erklärung seines Wahns. Das Remake spielt das Motiv Blakes dann leider bis zum Überdruss aus – der Mörder ist von dem „Roten Drachen“ besetzt, er fährt sogar ins Brooklyn Museum in New York, um das Original Blakes aufzuessen (indes, nicht einmal das nützt etwas). Nichts ist mehr subtil oder lädt zur assoziativen Erweiterung ein. Selbst die Szene mit dem narkotisierten Tiger, vom Original fast Eins zu Eins übernommen, verliert ihren symbolistischen Charme. Es sei wiederholt, dass der in der Kombination weiblicher Unschuld mit männlicher Aberranz besteht – eine latente Gewalt, die „über einen kommt“, ohne dass man sich wehren kann. Hier hingegen streichelt die junge blinde selbstvergessen über das Fell des Tigers, und dann – auch über das, was in der Fan-Community als tiger balls bezeichnet wird. Solche Drastik verschiebt alles.
Verwandlungen oder, wie er es nennt, Metamorphosen macht Theweleit noch einmal gesondert zum Thema mit Verweis auf die Moderne, die Pop-Art, das Verschieben des ornamentalem Hintergrunds nach vorne, im Gegensatz zum harten Cop-Film, den männliche Zuschauer bevorzugen. Auf dem Siedepunkt der Spannung wird bekanntlich durch einen cheat cut nicht nur die ganze Kavallerie des FBI in die Irre geschickt, sondern vor allem auch wir Zuschauer. Clarice muss das monokulare, mordende Insekt Billy am Ende alleine zur Strecke bringen.
Die Tiermetapher stammt aus dem Symbolismus, der selbst eine Kulturscheide markierte: von der kanonisierten christlichen Ikonographie, die das Böse im markanten Gegensatz zum Göttlichen begriff, zu einer individuelleren, privateren Auffassung. Da geht es dann schon auch um den Impuls, den das Unbewusste oder Triebhafte anhand einer dargestellten Unschuld im Imaginären auch des „unschuldigen“ Betrachters auslösen kann. Über die Begriffe Monster, Bestie, Dämon werde ich demnächst an dieser Stelle ausführlicher schreiben. Ein Hinweis vorab: “Der Begriff des Dämonischen taucht auf, wo die Moderne in Konjunktion mit dem Katholizismus tritt”, schrieb Walter Benjamin im Passagen-Werk.
Der Erfolg von Silence (1991) zog drei noch einmal anders geartete Filme nach sich, die vor allem das Phämonen und die Faszination des Hannibal Lecter erklären wollten. Neben dem erwähnten Remake / Prequel Red Dragon (Brett Rattner, 2002) sind das Hannibal (Ridley Scott, 2001), ein in Florenz situiertes Sequel mit Anthony Hopkins, ohne Jodie Foster, ein Film, der in seinem Hang zum Exzess ganz aus dem Ruder läuft. Und Hannibal Rising (Peter Webber, 2007), noch ein Prequel, das Hannibals Trauma zu erklären sucht: in der Summe beides Filme, die man sich sparen kann. Dafür sollte man Silence zweimal mehr ansehen.