FILMTIPP #100: GLÜCKSMOMENTE IM KINO. MIT MATHILDA, LÉON, AMÉLIE UND ETHAN.

Illustration: Marie Gall, Hochschule Mainz

Es gibt Momente im Kino, die glücklich machen: Wenn etwa am Ende von Léon, der Profi (1995) die zehnjährige Mathilda (Nata­lie Port­man) ihren Freund, den sensiblen Killer (Jean Reno), symbolisch be­gräbt, in­dem sie vor den Toren New Yorks eine Pflanze ein­gräbt. Diskret fährt die Ka­me­ra hoch über den klei­nen Wald hinaus und zeigt, wie im ersten Bild des Films, die Sky­line Man­hattans. Dazu singt Sting von The Shape of my heart. Man ruht in diesem Bild aus, nach zwei Stunden voller Mafia­ge­walt und staat­licher Kavallerie und im Zentrum der Kämpfe ein Kind, das hart sein musste, um zu überleben, und dafür den unwahrscheinlichsten Gefährten fand.

Die fabelhafte Welt der Amélie (2001) war ein anderer französischer Film, der in Momenten verzauberte. Dort hat die sinnsuchende junge Pariserin Amélie (Audrey Tatou) einen Nachbarn, einen Ma­ler mit einer Glasknochen­krankheit, den ein merk­würdiges Tun beschäftigt: Tag für Tag, Woche für Woche kopiert er dassel­be Bild, Le Dejeuner des Canotiers/Das Frühstück der Ruderer von Pierre-Auguste Renoir, von 1880/81. Die Metapher ist deut­lich: Ein Mensch, der extrem vorsichtig sein muss, weil seine Gesundheit durch jede unbe­dach­te Aktion auf dem Spiel steht, versucht einen Sonnentag an der Seine fest­zu­halten und zu wieder­ho­len, den Men­schen, Freunde des Malers, miteinander und dem Leben zuge­wandt ver­bringen. Was macht das Leben aus, möchte man hier fragen, ange­sichts der ständigen Bedro­hung, es zu verlieren? Die schönste Antwort auf diese Frage findet sich nach meinem Dafürhalten in einem Roman von Salman Rushdie: „Fünf Myste­rien bergen den Schlüssel zum Unsichtbaren: der Lie­bes­akt, die Geburt eines Kindes, die Betrachtung großer Kunstwerke, die Gegenwart des Todes oder Unglücks und zu hören, wie sich die menschliche Stimme im Gesang erhebt.“

Im Kino ist Glück nicht festzuhalten wie mit einem Galeriebild, es rauscht vorbei, es kommt und es geht und kommt vielleicht sogar wieder. Das ist das Wesen des Kinoglücks: Versucht man es zu greifen, quillt es wie Wasser aus der Faust. Ähnlich ist es mit dem filmischen Bild: Hält man es fest, verändert es seinen Charakter, wird zum eingefrorenen Bild, zur Fotografie, zu einer anderen Gattung von Gestaltung.

Natürlich gibt es konventionelle Bilder, die mit dem Kino verknüpft werden können: das gestellte Foto, das zur Werbung verwendet wird, oder das Plakat, das ver­schie­dene Momente eines Films zu einem einzigen Bild zusammen­fasst. Wir haben an der Hochschule eine dritte Bild-Art entwickelt, die durch zwei Vorgaben definiert wurde: Zum einen sollte dieses zu gestaltende Bild den zeitlich-statischen Moment überwinden, in dem der Film angehalten wird, stattdessen möglichst Andeutungen des Verlaufs, der filmischen Gesamtkom­position präsentieren; zweite Bedingung, die für die Übung galt, waren eben das starke Gefühl, das mit der Erin­nerung an einen Lieblingsfilm verknüpft werden sollte. Das musste nicht mehr unbedingt ein erinnertes Glücksgefühl sein; vielmehr galt jedwede Emotion. Auffällig ist an den Illu­strationen, von denen wir hier gern mehr zeigen würden, dass nicht nur po­si­tive Ge­fühle erinnert wu­rden. Auch Angst, oder, im Kino besser: die Er­in­nerung an erlebte Angst­lust brachte in vielen Fällen schöne Bilder hervor.

Kinoglück ist also nicht ans Einzelbild gebunden, auch nicht an ein Glücks­gefühl oder eine glückliche Atmosphäre, die der Film im Ganzen ver­strömt. Es ist vielmehr die Freude über einen besonders geglückten Moment inmitten vieler gestalterischer Lösungen, die ein Film gestalthaft prä­sen­tiert: Je mehr davon sich summieren, desto glücklicher wird man; er würde heute, schrieb der Gestalttheoretiker und Kunstpsychologe Rudolf Arnheim im Rückblick auf seinen Klassiker Film als Kunst, „vom, sagen wir, sinfonischen Verlauf des Ganzen ausgehen und all jene kost­baren Miniaturen als Haltepunkt innerhalb der Teilhandlungen betrachten.“

Daher kann es im Kino auch die Rachephantasie eines Besessenen sein, die einen über Jahre hinaus glücklich macht: John Fords The Searchers (1956) ist für viele, auch für den Frankfurter Philosophen Martin Seel, der mit Die Künste des Kinos (2013) vielleicht die letzte Theo­rie des Kinos vorgelegt hat, ein außer­ordent­lich ge­glück­ter amerikanischer Film. Ich mag den Moment sehr, in dem Ethan Edwards mit der echten, eindrucksvollen Stimme John Waynes den jungen Martin Pawley in vollster sou­veräner Herablassung mit dem Satz I can whup you to a frazzle zurechtstutzt:, übertragen etwa: „Ich kann dich fix und fertig machen.“ Mein Moment der Mo­mente kommt aber immer dann, wenn die Trauergemeinde am Grab der Familie von Ethans Bruder Shall we gather at the River singt, das bei sol­chen Ri­tua­len stets zu hörende Lied bei Ford. Allein – Ethan kann nicht länger war­ten. There‘s no more time for prayin‘. Amen. AMEN! Dann stapft er los, wie eine Urge­walt, angetrieben von einer versagten Liebe. Wo Glück auf der Leinwand nicht gelebt werden kann, beginnt der Hass.

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