FILMTIPP #103: IM NACHGANG ZU THE LAST WALTZ. PAINTING WITH WORDS AND MUSIC VON JOAN TOSONI UND JONI MITCHELL (USA 1998).

Joni Mitchell, Dog Eat Dog. Geffen Rec. 1985 www.21ct.de

Ein Nachtrag zu The Last Waltz, der dieser Tage vor etwa 150 Menschen zum Auftakt des Folkfestivals 2022 an der Ingelheimer Burgkirche lief.

Hier: Weder Film noch TV-Format noch gewöhnliches Konzert, für das man eine Ein­trittskarte löst. Eine Hommage. Eingangs wird Joni Mitchell auf die Büh­ne geru­fen, die hier, da ein Aufnahmestudio, Sound Stage heißt. Mit­chell setzt rasch noch ein paar Pinselstriche auf ein schon gerahmtes Staffelei-Bild und eilt nach vorne, wo sie von etwa 100 Gästen emp­fan­gen wird. Die sit­zen auf Sofas um die Bühnen­flä­che herum; jeder Himmels­rich­tung kommt laut der Voice-over eine eso­terische Be­deu­tung zu. Die Stell­wände des Studios von War­ner Bros. sind mit Ge­mäl­den der vormali­gen Joan Roberta An­derson ge­schmückt, die sich seit einer früh geschie­de­nen Ehe Mit­chell nennt. Rosan­na Ar­quet­te spricht ein paar warme Wor­te zur Ein­führung. Dann beginnt ein in­times Konzert, an dem wir medial teilhaben.

Mitchell, 1943 in Toronto geboren, errang in den frühen 70er Jah­ren einen Na­men als instrumental noch recht schlicht aufgestellte Musi­ke­rin, bedingt auch durch eine frühe Kinderlähmung, die komplizierte Griffe an der Gitarre schwer machte; gesegnet war sie allerdings mit einer verschwenderischen Vier-Okta­ven-Stimme sowie einer ausgeprägten Gabe zum Schreiben von topical songs wie „Big yellow taxi“ oder „Woodstock“. So war sie bald so etwas wie die ätherische Muse des non­komfor­misti­schen, jugendbe­wegten Auf­bruchs. Mit der ersten Band wurde Mitchells Musik komple­xer. In ei­nem Kriminal­roman von Robert Galbraith (a.k.a. Joanne Row­ling) reflek­tiert eine Protagonistin über die mit einem Mal als „schwie­rig“ empfundenem Folk­musik Mitchells: „Doch jetzt, in der Dunkel­heit, hörte sie Me­lodien zwischen den schwe­benden Akkor­den her­aus, und als sie irgend­wann nicht mehr mit dem verglich, was sie sonst gewöhnt war, dämmer­te ihr auch, dass die so be­fremdli­chen Metaphern tatsächlich Geständ­nisse der eigenen Unzu­läng­lichkeit, der Vereinsa­mung waren; der Schwierigkeit, zwei Leben mit­einander zu ver­schmelzen; des Wartens auf den einen, nie auf­tauchen­den Seelen­ver­wandten; der Sehnsucht nach Freiheit und Liebe zugleich.“

Ende der 70er begann Mitchell einen Flirt mit dem Jazz; in den 80ern ver­suchte sie, auf dem La­bel David Geffens, ihr Glück mit einigen (bis heute unter­schätz­ten) Rock­plat­ten. In der Pha­se des Ausprobieren neuer Musikrichtungen arbeitete sie mit Wayne Shor­ter, Jaco Pasto­rius, Pat Metheny, Mark Isham und Char­les Min­gus, einigen der Besten also, brach dann nach einer miss­glück­ten Tour 2000 das öffentliche Auftreten aber ab. Seither malt, liest und pri­va­ti­siert sie, selten unterbro­chen von TV-Auf­tritten und Ehrungen. Joni Mit­chell, die, traut man der umfangreichen Biographie von David Yaf­fe (dt. 2020, Matt­hes & Seitz), über lange Zeiten mit so ziemlich jedem Mu­siker eine Affäre hatte, wenn er denn jung und bekannt und gutausse­hend genug war, macht sich in ihren spä­ten Jah­ren rar. In den letzten Jahren hat sie erhebliche gesundheitliche Probleme.

Was Du mit dem Pinsel ausdrücken kannst, das kannst Du auch mit Wor­ten, dieses Motto eines Lehrers in der sechsten Klasse hat sie immer wieder zitiert. Die Insze­nierung ihres Künstlertums setzte Mitchell mit jedem Albumcover umso intimer um, je radikal subjek­tiver Musik & Texte wurden. Der Gang ins Studio wurde zur Selbstbefragung, nicht zuletzt zur Stellung von Frau und Künstlerin in der Gesell­schaft, oft in Spannung zum sicht­baren äußeren, labelhaften Bild. Mit­chell war nie gefällig oder einfach, doch erscheint hier eben auch nicht nur eine Narzisstin, bei der das Bedürfnis nach Bestä­ti­gung mit jedem Echo von außen weiter wüchse. Man kann ihr abnehmen, dass es ihr eher um ein Festhalten jener spezifi­schen In­ten­sität des Erlebens ging, wie sie ihr von den drei Kün­sten gegeben wurde, die sie ausübt, mit Musik, Dichtung und Malerei. Eine vierte Kunst wird bislang ver­ges­sen, wenn es um den Rang der Joni Mit­chell in der populären Kunst des spä­ten 20. Jahr­hun­derts geht: ihre Aus­einan­derset­zung mit dem Film. Dabei ver­steht es die kanadi­sche Künst­le­rin die synä­sthe­tische Erfah­rung im Kino, also das in der Summe der Sinne ge­misch­te Erleben über die verschiedenen Kanäle der Wahrneh­mung, wie kaum eine andere Zeitge­nos­sin in Worte & Musik zu münzen. Hier geht es dann doch häufig um die be­rühmten Questions about me, die sie aller­dings, weil öffentlich in der Kunst zur Schau gestellt, ihren Hörer gleich auch Kinogängern stellt – dem Kino, dem „ge­heimen Ort“ mit der größt­möglichen öffentlichen Wirkung: Once I saw a film in New York City / That was shot in Colorado / Girl meets desperado / In the trembling moun­tain trees / Out of all of the girls that you see / In bleachers and cafe windows / Sitting-flir­ting with someone / Looking to have some fun / Why did you pick me? / For the secret place. „My secret place“, auf: Chalk Mark in a Rain Storm, Geffen Rec. 1988.

Oder „Shades of Scarlett con­que­ring“, von 1975. Es geht in dem Song um die Ge­fühle einer Frau, Gefühle, die sie entwickelt, während sie einen klassi­schen Hol­ly­woodfilm sieht. Man ahnt, dass es um Gone with the wind von 1939 geht, aber der Film ist weniger wichtig als das Erleben an sich. Out of the Fire like Catholic Saints / Comes Scarlett and her deep complaint, so setzt das Erleben ein. She covers her eyes in the x-rated scenes / Running from the reels, das passiert mit den alten, sentimental movies. A Celluloid rider comes to Town / Cine­matic lovers sway. Am Ende, die Katharsis: Sha­des of Scarlett conque­ring / She says, „a woman must have everything“. Medientheoretisch könnte man das Ge­schil­derte einen synästheti­schen Sinnes­eindruck nennen, wobei der Profiteur im kommuni­ka­tiven Dreieck Autor-Objekt-Rezi­pient der Filmzuschauer ist. Daher nenne ich es schlicht ein schönes Bei­spiel dafür, wie das echte, das einzige, das wahre Kinoge­fühl in Töne und Worte um­zumünzen ist. Und da ist doch immer der Zwei­fel, die Angst, die mit Bildern biblischen Ursprung und Aus­maßes einge­dämmt wird: All this talk about holiness now / It must be start of the latest style / Is it all books and words / Or do you really feel it? / Do you really laugh? Do you really care?/ Do you really smile / When you smile? („Woman of Heart and Mind“, 1972). Was ihr als in den Medien präsente Künstlerin passieren kann, schildert sie in „For the Ro­ses“, ebenfalls von 1972: And now you’re seen / On giant screens / And at parties for the press / And for people who have slices from you / From the company… und wenig später, an gleicher Stelle, das daraus resultierende Gefühl, von den Medien regelrecht hingerichtet werden zu können, wie einst Jesus Christus: Just when you’re getting a taste for wors­hip / They start bringing out the Hammers / And the boards / And the nails.

Das ist das erste Beispiel einer biblischen Metapher, wie sie später oft geben wird im Werk der Joni Mitchell, am schönsten vielleicht in „Love“, ihrer Vertonung, fast a capella gesungen, des „Hohen Lieds der Liebe“ aus dem Ersten Korinther­brief, Kap. 13: If I had the gift of pro­phe­cy / And all the knowledge / And the faith to move the mountains / Even if I understood all of the mysteries / If I didn’t have love / I’d be nothing. / Love never looks for love / Love’s not puffed up / Or envious / Or touchy / Behause it rejoices in the truth / Not in iniquity / Love sees like a child. / As a child I spoke as a child / I thought and understood as a child / But when I became a woman / I put away childish things / And began to see through a glass darkly. Als sie eine Frau wird, beginnt sie wie „durch ein dunkles Glas“ zu sehen, findet ihre Wahrheit in einem unbestimmten, dunklen (medialen) Raum, wie man ihn auch bei Caravaggio oder Rembrandt oder George de la Tour finden kann und der man durchaus auch Kino nennen könn­te. Wichtig ist, dass die Unschuld bewahrt bleibt, dass sie allein ist, unbeeinflusst, von gutem Glauben, dass sie in diese eine Rich­tung schaut in der bloßen Hoffnung, dass die Liebe zurück­blickt. „Love“ findet sich erstmals auf einer der mittleren Veröffent­lichun­gen, auf Wild things run fast von 1982, als Mitchell mitten drin steckte in ihren Auseinandersetzungen mit der Musikindustrie, mit dem Label Geffen; keine besonders gute Zeit für sie. Doch prägt diese Zeit ein Motto aus, dass man getrost für die generelle Hal­tung der Joni Mitchell gegenüber dem Geschäft nehmen kann, das auch das ihre ist, zumindest zeitweise: Artifice, brutality and innocence heißt es auf Dog eat dog, der Platte, in der sie dem Business ihre Schluss­rech­nung aufmacht. Künst­lich­keit und Brutalität findet sie in den Medien, als Antrieb „der Er­schöpf­ten“, wie sie ihre Geschäfts- und Leidensgenossen nennt; doch da ist noch die letzte der drei großen „Stimulanzien“, die sich eine Künst­le­rin trotz allem bewahren müsse, und das ist die Unschuld, der unschul­dige Blick, das immer Wieder-neu-drauf-Schauen auf stetig sich verän­dernde Konstellationen („The Three Great Stimu­lants“, 1985). Es folg­ten zwei weitere Alben für Geffen, mit denen Joni Mitchell sich frei­schwimmt, neue Themen setzt und ein imposantes Spätwerk beginnt.

„Slouching towards Bethlehem“ (von Night Ride Home, 1991) nutzt Burundi-Drumming, von Mitchell seit 1975 eingesetzt, lange vor dem Ethno-Boom in der populären Musik, als rhythmisches Fundament: ein massiver Beat, von dem sich bei ihr im Regelfall der elektrische Bass mit eigenen Melodiebögen ab­hebt. Darü­ber im Fall von „Slouching“ (und den beiden nachfolgenden Alben Trave­lo­gue, 2002, sowie Shine, 2007) heftige Soundimpulse, wie man sie vom illu­strativen Holly­wood-Score kennt: Streicherglissandi, Hornstöße, oft disso­nant, atonal gar, stets mit eigener Spannung, die die Erzählungen mit all ihren Emotionen unter­stützt und verstärkt. Vom Genre her hat man bei „Slou­ching“ mit einem Action Dra­ma zu tun. Was wäre der Weg nach Bethlehem to be born auch anderes ge­we­sen als das erste große Action-Drama? Innocence is drowned, heißt es in hier, mit For what is this rough beast? nimmt sie ein weiteres altes Thema wieder auf; The Head of a man / The shape of a lion – der Löwe von MGM?, jedenfalls Vexed to a night­mare / Out of a stoney sleep / By a rocking’ cradle / By the Sea of Galilee.

Und dann Travelogue – die Summe ihrer Laufbahn, viele wichtige Songs – und nichts von Blue, der Platte, für die sie noch immer am meisten gelobt wird und die den Lebens-Blues einer ganzen Generation erhöht hat. Die guten und die weniger guten Zeiten dieser Karriere, dieses Lebens, aufgehoben in der verschwenderischen Ver­pa­ckung eines 70-köpfigen Orchesters, eines großen Chors, Wayne Shorters und weiterer Lieblingsmusiker. Die Songs bieten die Stories im Vordergrund; der Sound des Orchesters, als Umwallung immer präsent, ruft, wie in Watte packend, die Bilder eines klassischen Hollywoodfilms auf, teils Melo-, teils echtes Drama. Und dazu diese Stimme, die sich in solche Höhen schwingt und ganz eigene plastische Bö­gen auf­macht. Es passt dazu, dass im Werk nun wieder topical songs auf­tauchen, die auch diese Phase der Joni Mitchell aktuell machten und die Sängerin gar zur Vorreite­rin eines The­mas werden ließen, das noch nicht wirklich auf der Agenda war, als sie es anriss. Erst der Fund von mehr als 200 Kinderleichen im Frühsom­mer 2021 hat die Welt­öf­fent­lichkeit darauf gestoßen, wie in Kanada die indigene Bevöl­kerung sepa­riert und mit drastischen Mitteln umerzogen werden sollte.

Es geht um die Songs Cherokee Louise (1991) und The Magdalena Laundries (1994), letz­terer eine Abrech­nung mit den Heimen der katholischen Kirche, in die junge, ledige Müt­ter und „gefallene Mädchen“ eingewiesen wurden, wo dann viel Missbrauch statt fand. Ähnlich, aber in der Fami­lie, die erschütternden Zeilen über ihre Kind­heits­freundin Louise. Mitchell erinnert sich, mit ihr Münzen auf Ei­sen­bahn­gleise gelegt und Ver­stecken gespielt zu haben, unter der Broadway Bridge von Saskatoon in Kanada, der Stadt, in der das prairie girl auf­wuchs und wo sich ihre Freundin Louise mit 13 Jahren dann immer länger ver­steckt hielt. Unvermittelt taucht der Grund dafür auf: And she home runs to her fo­ster dad / He open up his zipper / And he yanks her to her knees / Oh plea­se, plea­se, my friend Chero­kee Louise. Die Idylle ist beendet, für alle Zeiten.

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