Ein Nachtrag zu The Last Waltz, der dieser Tage vor etwa 150 Menschen zum Auftakt des Folkfestivals 2022 an der Ingelheimer Burgkirche lief.
Hier: Weder Film noch TV-Format noch gewöhnliches Konzert, für das man eine Eintrittskarte löst. Eine Hommage. Eingangs wird Joni Mitchell auf die Bühne gerufen, die hier, da ein Aufnahmestudio, Sound Stage heißt. Mitchell setzt rasch noch ein paar Pinselstriche auf ein schon gerahmtes Staffelei-Bild und eilt nach vorne, wo sie von etwa 100 Gästen empfangen wird. Die sitzen auf Sofas um die Bühnenfläche herum; jeder Himmelsrichtung kommt laut der Voice-over eine esoterische Bedeutung zu. Die Stellwände des Studios von Warner Bros. sind mit Gemälden der vormaligen Joan Roberta Anderson geschmückt, die sich seit einer früh geschiedenen Ehe Mitchell nennt. Rosanna Arquette spricht ein paar warme Worte zur Einführung. Dann beginnt ein intimes Konzert, an dem wir medial teilhaben.
Mitchell, 1943 in Toronto geboren, errang in den frühen 70er Jahren einen Namen als instrumental noch recht schlicht aufgestellte Musikerin, bedingt auch durch eine frühe Kinderlähmung, die komplizierte Griffe an der Gitarre schwer machte; gesegnet war sie allerdings mit einer verschwenderischen Vier-Oktaven-Stimme sowie einer ausgeprägten Gabe zum Schreiben von topical songs wie „Big yellow taxi“ oder „Woodstock“. So war sie bald so etwas wie die ätherische Muse des nonkomformistischen, jugendbewegten Aufbruchs. Mit der ersten Band wurde Mitchells Musik komplexer. In einem Kriminalroman von Robert Galbraith (a.k.a. Joanne Rowling) reflektiert eine Protagonistin über die mit einem Mal als „schwierig“ empfundenem Folkmusik Mitchells: „Doch jetzt, in der Dunkelheit, hörte sie Melodien zwischen den schwebenden Akkorden heraus, und als sie irgendwann nicht mehr mit dem verglich, was sie sonst gewöhnt war, dämmerte ihr auch, dass die so befremdlichen Metaphern tatsächlich Geständnisse der eigenen Unzulänglichkeit, der Vereinsamung waren; der Schwierigkeit, zwei Leben miteinander zu verschmelzen; des Wartens auf den einen, nie auftauchenden Seelenverwandten; der Sehnsucht nach Freiheit und Liebe zugleich.“
Ende der 70er begann Mitchell einen Flirt mit dem Jazz; in den 80ern versuchte sie, auf dem Label David Geffens, ihr Glück mit einigen (bis heute unterschätzten) Rockplatten. In der Phase des Ausprobieren neuer Musikrichtungen arbeitete sie mit Wayne Shorter, Jaco Pastorius, Pat Metheny, Mark Isham und Charles Mingus, einigen der Besten also, brach dann nach einer missglückten Tour 2000 das öffentliche Auftreten aber ab. Seither malt, liest und privatisiert sie, selten unterbrochen von TV-Auftritten und Ehrungen. Joni Mitchell, die, traut man der umfangreichen Biographie von David Yaffe (dt. 2020, Matthes & Seitz), über lange Zeiten mit so ziemlich jedem Musiker eine Affäre hatte, wenn er denn jung und bekannt und gutaussehend genug war, macht sich in ihren späten Jahren rar. In den letzten Jahren hat sie erhebliche gesundheitliche Probleme.
Was Du mit dem Pinsel ausdrücken kannst, das kannst Du auch mit Worten, dieses Motto eines Lehrers in der sechsten Klasse hat sie immer wieder zitiert. Die Inszenierung ihres Künstlertums setzte Mitchell mit jedem Albumcover umso intimer um, je radikal subjektiver Musik & Texte wurden. Der Gang ins Studio wurde zur Selbstbefragung, nicht zuletzt zur Stellung von Frau und Künstlerin in der Gesellschaft, oft in Spannung zum sichtbaren äußeren, labelhaften Bild. Mitchell war nie gefällig oder einfach, doch erscheint hier eben auch nicht nur eine Narzisstin, bei der das Bedürfnis nach Bestätigung mit jedem Echo von außen weiter wüchse. Man kann ihr abnehmen, dass es ihr eher um ein Festhalten jener spezifischen Intensität des Erlebens ging, wie sie ihr von den drei Künsten gegeben wurde, die sie ausübt, mit Musik, Dichtung und Malerei. Eine vierte Kunst wird bislang vergessen, wenn es um den Rang der Joni Mitchell in der populären Kunst des späten 20. Jahrhunderts geht: ihre Auseinandersetzung mit dem Film. Dabei versteht es die kanadische Künstlerin die synästhetische Erfahrung im Kino, also das in der Summe der Sinne gemischte Erleben über die verschiedenen Kanäle der Wahrnehmung, wie kaum eine andere Zeitgenossin in Worte & Musik zu münzen. Hier geht es dann doch häufig um die berühmten Questions about me, die sie allerdings, weil öffentlich in der Kunst zur Schau gestellt, ihren Hörer gleich auch Kinogängern stellt – dem Kino, dem „geheimen Ort“ mit der größtmöglichen öffentlichen Wirkung: Once I saw a film in New York City / That was shot in Colorado / Girl meets desperado / In the trembling mountain trees / Out of all of the girls that you see / In bleachers and cafe windows / Sitting-flirting with someone / Looking to have some fun / Why did you pick me? / For the secret place. „My secret place“, auf: Chalk Mark in a Rain Storm, Geffen Rec. 1988.
Oder „Shades of Scarlett conquering“, von 1975. Es geht in dem Song um die Gefühle einer Frau, Gefühle, die sie entwickelt, während sie einen klassischen Hollywoodfilm sieht. Man ahnt, dass es um Gone with the wind von 1939 geht, aber der Film ist weniger wichtig als das Erleben an sich. Out of the Fire like Catholic Saints / Comes Scarlett and her deep complaint, so setzt das Erleben ein. She covers her eyes in the x-rated scenes / Running from the reels, das passiert mit den alten, sentimental movies. A Celluloid rider comes to Town / Cinematic lovers sway. Am Ende, die Katharsis: Shades of Scarlett conquering / She says, „a woman must have everything“. Medientheoretisch könnte man das Geschilderte einen synästhetischen Sinneseindruck nennen, wobei der Profiteur im kommunikativen Dreieck Autor-Objekt-Rezipient der Filmzuschauer ist. Daher nenne ich es schlicht ein schönes Beispiel dafür, wie das echte, das einzige, das wahre Kinogefühl in Töne und Worte umzumünzen ist. Und da ist doch immer der Zweifel, die Angst, die mit Bildern biblischen Ursprung und Ausmaßes eingedämmt wird: All this talk about holiness now / It must be start of the latest style / Is it all books and words / Or do you really feel it? / Do you really laugh? Do you really care?/ Do you really smile / When you smile? („Woman of Heart and Mind“, 1972). Was ihr als in den Medien präsente Künstlerin passieren kann, schildert sie in „For the Roses“, ebenfalls von 1972: And now you’re seen / On giant screens / And at parties for the press / And for people who have slices from you / From the company… und wenig später, an gleicher Stelle, das daraus resultierende Gefühl, von den Medien regelrecht hingerichtet werden zu können, wie einst Jesus Christus: Just when you’re getting a taste for worship / They start bringing out the Hammers / And the boards / And the nails.
Das ist das erste Beispiel einer biblischen Metapher, wie sie später oft geben wird im Werk der Joni Mitchell, am schönsten vielleicht in „Love“, ihrer Vertonung, fast a capella gesungen, des „Hohen Lieds der Liebe“ aus dem Ersten Korintherbrief, Kap. 13: If I had the gift of prophecy / And all the knowledge / And the faith to move the mountains / Even if I understood all of the mysteries / If I didn’t have love / I’d be nothing. / Love never looks for love / Love’s not puffed up / Or envious / Or touchy / Behause it rejoices in the truth / Not in iniquity / Love sees like a child. / As a child I spoke as a child / I thought and understood as a child / But when I became a woman / I put away childish things / And began to see through a glass darkly. Als sie eine Frau wird, beginnt sie wie „durch ein dunkles Glas“ zu sehen, findet ihre Wahrheit in einem unbestimmten, dunklen (medialen) Raum, wie man ihn auch bei Caravaggio oder Rembrandt oder George de la Tour finden kann und der man durchaus auch Kino nennen könnte. Wichtig ist, dass die Unschuld bewahrt bleibt, dass sie allein ist, unbeeinflusst, von gutem Glauben, dass sie in diese eine Richtung schaut in der bloßen Hoffnung, dass die Liebe zurückblickt. „Love“ findet sich erstmals auf einer der mittleren Veröffentlichungen, auf Wild things run fast von 1982, als Mitchell mitten drin steckte in ihren Auseinandersetzungen mit der Musikindustrie, mit dem Label Geffen; keine besonders gute Zeit für sie. Doch prägt diese Zeit ein Motto aus, dass man getrost für die generelle Haltung der Joni Mitchell gegenüber dem Geschäft nehmen kann, das auch das ihre ist, zumindest zeitweise: Artifice, brutality and innocence heißt es auf Dog eat dog, der Platte, in der sie dem Business ihre Schlussrechnung aufmacht. Künstlichkeit und Brutalität findet sie in den Medien, als Antrieb „der Erschöpften“, wie sie ihre Geschäfts- und Leidensgenossen nennt; doch da ist noch die letzte der drei großen „Stimulanzien“, die sich eine Künstlerin trotz allem bewahren müsse, und das ist die Unschuld, der unschuldige Blick, das immer Wieder-neu-drauf-Schauen auf stetig sich verändernde Konstellationen („The Three Great Stimulants“, 1985). Es folgten zwei weitere Alben für Geffen, mit denen Joni Mitchell sich freischwimmt, neue Themen setzt und ein imposantes Spätwerk beginnt.
„Slouching towards Bethlehem“ (von Night Ride Home, 1991) nutzt Burundi-Drumming, von Mitchell seit 1975 eingesetzt, lange vor dem Ethno-Boom in der populären Musik, als rhythmisches Fundament: ein massiver Beat, von dem sich bei ihr im Regelfall der elektrische Bass mit eigenen Melodiebögen abhebt. Darüber im Fall von „Slouching“ (und den beiden nachfolgenden Alben Travelogue, 2002, sowie Shine, 2007) heftige Soundimpulse, wie man sie vom illustrativen Hollywood-Score kennt: Streicherglissandi, Hornstöße, oft dissonant, atonal gar, stets mit eigener Spannung, die die Erzählungen mit all ihren Emotionen unterstützt und verstärkt. Vom Genre her hat man bei „Slouching“ mit einem Action Drama zu tun. Was wäre der Weg nach Bethlehem to be born auch anderes gewesen als das erste große Action-Drama? Innocence is drowned, heißt es in hier, mit For what is this rough beast? nimmt sie ein weiteres altes Thema wieder auf; The Head of a man / The shape of a lion – der Löwe von MGM?, jedenfalls Vexed to a nightmare / Out of a stoney sleep / By a rocking’ cradle / By the Sea of Galilee.
Und dann Travelogue – die Summe ihrer Laufbahn, viele wichtige Songs – und nichts von Blue, der Platte, für die sie noch immer am meisten gelobt wird und die den Lebens-Blues einer ganzen Generation erhöht hat. Die guten und die weniger guten Zeiten dieser Karriere, dieses Lebens, aufgehoben in der verschwenderischen Verpackung eines 70-köpfigen Orchesters, eines großen Chors, Wayne Shorters und weiterer Lieblingsmusiker. Die Songs bieten die Stories im Vordergrund; der Sound des Orchesters, als Umwallung immer präsent, ruft, wie in Watte packend, die Bilder eines klassischen Hollywoodfilms auf, teils Melo-, teils echtes Drama. Und dazu diese Stimme, die sich in solche Höhen schwingt und ganz eigene plastische Bögen aufmacht. Es passt dazu, dass im Werk nun wieder topical songs auftauchen, die auch diese Phase der Joni Mitchell aktuell machten und die Sängerin gar zur Vorreiterin eines Themas werden ließen, das noch nicht wirklich auf der Agenda war, als sie es anriss. Erst der Fund von mehr als 200 Kinderleichen im Frühsommer 2021 hat die Weltöffentlichkeit darauf gestoßen, wie in Kanada die indigene Bevölkerung separiert und mit drastischen Mitteln umerzogen werden sollte.
Es geht um die Songs Cherokee Louise (1991) und The Magdalena Laundries (1994), letzterer eine Abrechnung mit den Heimen der katholischen Kirche, in die junge, ledige Mütter und „gefallene Mädchen“ eingewiesen wurden, wo dann viel Missbrauch statt fand. Ähnlich, aber in der Familie, die erschütternden Zeilen über ihre Kindheitsfreundin Louise. Mitchell erinnert sich, mit ihr Münzen auf Eisenbahngleise gelegt und Verstecken gespielt zu haben, unter der Broadway Bridge von Saskatoon in Kanada, der Stadt, in der das prairie girl aufwuchs und wo sich ihre Freundin Louise mit 13 Jahren dann immer länger versteckt hielt. Unvermittelt taucht der Grund dafür auf: And she home runs to her foster dad / He open up his zipper / And he yanks her to her knees / Oh please, please, my friend Cherokee Louise. Die Idylle ist beendet, für alle Zeiten.