FILMTIPP #108: ENNIO VON GIUSEPPE TORNATORE (ITALIEN 2021).

Foto: F!F

Von Giuseppe Tornatore haben die Filmfreunde auf dem neuen Stadtplatz im Zent­rum Ingelheims den wunderbaren Film Cinema Paradiso (1988) gezeigt. Darin findet sich ein Städtchen im Nachkriegsitalien buchstäblich im Kino wieder, wenn es geht open air, und alle kommunizieren andauernd miteinander – über den Film. Die Musik zu dieser Liebeserklärung ans Kinoerleben seiner Kindheit ließ sich Tornatore von Ennio Morricone liefern, dem unbestrittenen Meister seines Fachs. Wir Film­freunde garnierten diesen Abend mit einem Filmusikquiz, bei dem am Ende ein Gast aus dem Publikum ein klassisches Thema und den davon geprägten Film stets tat­sächlich erkannte; davor lief der Score von Pat Garrett jagt Billy the Kid von Sam Peckinpah, der unser Publikum zusätzlich einstimmte.

Kino & Musik, das gehört eng zusammen. Filme erzielen ihre Wirkung mithilfe des Scores, der instrumentalen Musik. Kino & ein zum Film einladender Raum, auch das gehört zu­sam­men; man betritt einen Saal, in unserem Fall einen Stadt­raum, um mit nach Glei­chem Su­chenden ein intellektuelles & emotionales Erle­ben, eine ästhetische Er­fahrung zu tei­len. In Cinema Paradiso strahlte die Piazza von Ba­ghe­ria, der si­zilia­nischen Heimat Tornatores, für einen Abend auf unse­ren rhein­hessi­schen Ort aus. Bagheria war im Feudalismus einen Tag mit der Kutsche von Paler­mo ent­fernt. Daher gibt es genau dort eine Reihe tollster Residenzen des sizi­lia­nischen Adels – in der Regel heute noch un­zu­gäng­lich und so nur umso anziehender. Tornatore selbst be­sitzt ei­ne dieser feudalen Villen (s. Foto). Film­lieb­ha­ber mö­gen hier an den Gat­topardo Viscontis denken, der den Sommer in ei­ner sol­chen Villa ver­bringt. Oder an Antonionis L’Avventura, der teils in der Vil­la Pala­gonia entstand. Ennio Morri­cone hingegen denkt an Archi­tek­tur, wenn er über Film­musik spricht: “Noten sind das Bau­material für ein musika­lisches Ge­bäu­de; die Ziegel sind gleich in allen Häusern, doch kein Haus gleicht dem anderen.”

So hat wieder Vieles mit Vielem zu tun. Oder Zusammenhänge lassen sich herstellen, im Sinne von F!F. Den Zusammenhang von Ennio ergibt, zunächst ganz ge­wöhn­lich, das Leben und die Karriere von Ennio Morricone (1928-2020), der wäh­rend der Montage des Films verstarb. Gerahmt wird die chrono­lo­gisch er­zählte, doch glänzend kom­pilierte und oft glücklich montierte Doku­mentation von einer präch­tigen Gir­lande von Weggefährten und Fans, die ihrer Be­wund­e­rung für den Meister Ausdruck geben. Man mag diese Hymnen hinnehmen, die zweifellos berechtigt sind, doch in der letzten halben Stunde wird der Lor­beer­kranz dem Film schwer. Allzuviel Lob hat man dann von Gianni Morandi, Lina Wertmüller, Roland Joffé, Quincy Jo­nes, Hans Zim­mer, Bruce Springsteen, Dario Argento, Clint Eastwood, Bernardo Berto­lucci, Wong-Kar-Wai, John Williams und anderen gehört. Quentin Taran­tino kennt sowieso kein Limit, und Pat Metheny ver­steigt sich mit dem Vergleich, dass, wer eine Gottes­er­fah­rung suche, mit der Musik Morricones gut bedient sei.

Da ist es gewinnbringender, sich am Maestro selbst zu orientieren, der als be­schei­dener und zurückhaltender Mensch erscheint und sich allein in seiner Krea­ti­vität auslebte. Ennio erklärt viel, und man versteht sehr gut, was Mor­ri­cone uns und dem Kino zumutete. Auf einen Begriff gebraucht, ist es die Erfindung des Kontra­punkts. Ihn erklärt der Komponist am Beispiel von Il Grande Silenzio (Sergio Corbucci, 1968) wie folgt. “Sound im Film ohne Gleichgewicht zu mon­tieren, kann beides ruinieren, den Film und die Musik, die für den Film ein hinzu­gefüg­tes, abstraktes Element ist, und auf keinen Fall reine Pflichterfüllung. Wenn wir sie aber wirklich hören wollen, müssen wir sie freistellen.”

So gesehen, kommt das Hören von Tönen einem synästhetischen Erleben gleich. Musika­li­sche Töne werden Bilder: Nicht jede/r kann in der Fanfare aus C’era una vol­ta il West/Spiel mir das Lied vom Tod (Sergio Leone, 1968) den ursprünglich ge­dachten Schrei eines Coyoten heraushören und “sieht” das Tier – Unheim­liches und latente Gefahr aber sehr wohl. Es ist einer der Vorzüge der Doku­men­tation, dass zahlreiche filmerklärende Clips demonstrieren, wie Töne das Erleben im Ki­no bereichen. Und was für Fil­me Morri­co­ne bedient hat­: Das reicht von den An­fän­gen der Kunstfilmer Bertolucci und Pasolini über Außen­seiter wie Petri, Genre­filmer wie Ar­gento zu Pon­te­cor­vos Mei­len­stein Battaglia di Algeri (1967) und interna­tionalen Pub­likumser­folgen wie Once upon a Time in America (Sergio Leone, 1984) sowie die bekanntesten Italowestern; daneben viel echte italia­nità, wie die Taviani-Brüder, die in Ennio einen lustigen Auftritt haben.

Ennio ist der Blick in den Fundus eines Kino-Magiers. Neben vielen Wirkun­gen, die Morricone kreiiert hat und die man nun muster­gül­tig nachvollziehen kann, gibt es eine zweite Entdeckung zu ma­chen. Morrico­nes Lehrmeister, neben seinem Vater, einem Trompeter, war Goffredo Petrassi; von dem Komponisten und Dozen­ten an der römischen Accademia di Santa Ceci­lia bezog der Lernende Anre­gungen aus der Musik concrète, der Zwölf­tonmusik, mit einem Wort, aus der Avant­garde. Petrassis Anerken­nung des Schülers kam spät, doch sie kam. Anderer­seits stellt sich mit Ennio das sichere Gefühl ein, dass Mor­ricone seinen Weg auch ohne viel Lorbeer gegangen wäre. Nur wenige Jahrhun­dert­künst­ler, vielleicht nur Pablo Picasso und Frank Zappa, haben Ähnliches geschafft: Mit großer Passion ihr Gebiet zu revolutionieren und dabei noch ein breites Publikum zu begeistern.

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