Von Giuseppe Tornatore haben die Filmfreunde auf dem neuen Stadtplatz im Zentrum Ingelheims den wunderbaren Film Cinema Paradiso (1988) gezeigt. Darin findet sich ein Städtchen im Nachkriegsitalien buchstäblich im Kino wieder, wenn es geht open air, und alle kommunizieren andauernd miteinander – über den Film. Die Musik zu dieser Liebeserklärung ans Kinoerleben seiner Kindheit ließ sich Tornatore von Ennio Morricone liefern, dem unbestrittenen Meister seines Fachs. Wir Filmfreunde garnierten diesen Abend mit einem Filmusikquiz, bei dem am Ende ein Gast aus dem Publikum ein klassisches Thema und den davon geprägten Film stets tatsächlich erkannte; davor lief der Score von Pat Garrett jagt Billy the Kid von Sam Peckinpah, der unser Publikum zusätzlich einstimmte.
Kino & Musik, das gehört eng zusammen. Filme erzielen ihre Wirkung mithilfe des Scores, der instrumentalen Musik. Kino & ein zum Film einladender Raum, auch das gehört zusammen; man betritt einen Saal, in unserem Fall einen Stadtraum, um mit nach Gleichem Suchenden ein intellektuelles & emotionales Erleben, eine ästhetische Erfahrung zu teilen. In Cinema Paradiso strahlte die Piazza von Bagheria, der sizilianischen Heimat Tornatores, für einen Abend auf unseren rheinhessischen Ort aus. Bagheria war im Feudalismus einen Tag mit der Kutsche von Palermo entfernt. Daher gibt es genau dort eine Reihe tollster Residenzen des sizilianischen Adels – in der Regel heute noch unzugänglich und so nur umso anziehender. Tornatore selbst besitzt eine dieser feudalen Villen (s. Foto). Filmliebhaber mögen hier an den Gattopardo Viscontis denken, der den Sommer in einer solchen Villa verbringt. Oder an Antonionis L’Avventura, der teils in der Villa Palagonia entstand. Ennio Morricone hingegen denkt an Architektur, wenn er über Filmmusik spricht: “Noten sind das Baumaterial für ein musikalisches Gebäude; die Ziegel sind gleich in allen Häusern, doch kein Haus gleicht dem anderen.”
So hat wieder Vieles mit Vielem zu tun. Oder Zusammenhänge lassen sich herstellen, im Sinne von F!F. Den Zusammenhang von Ennio ergibt, zunächst ganz gewöhnlich, das Leben und die Karriere von Ennio Morricone (1928-2020), der während der Montage des Films verstarb. Gerahmt wird die chronologisch erzählte, doch glänzend kompilierte und oft glücklich montierte Dokumentation von einer prächtigen Girlande von Weggefährten und Fans, die ihrer Bewunderung für den Meister Ausdruck geben. Man mag diese Hymnen hinnehmen, die zweifellos berechtigt sind, doch in der letzten halben Stunde wird der Lorbeerkranz dem Film schwer. Allzuviel Lob hat man dann von Gianni Morandi, Lina Wertmüller, Roland Joffé, Quincy Jones, Hans Zimmer, Bruce Springsteen, Dario Argento, Clint Eastwood, Bernardo Bertolucci, Wong-Kar-Wai, John Williams und anderen gehört. Quentin Tarantino kennt sowieso kein Limit, und Pat Metheny versteigt sich mit dem Vergleich, dass, wer eine Gotteserfahrung suche, mit der Musik Morricones gut bedient sei.
Da ist es gewinnbringender, sich am Maestro selbst zu orientieren, der als bescheidener und zurückhaltender Mensch erscheint und sich allein in seiner Kreativität auslebte. Ennio erklärt viel, und man versteht sehr gut, was Morricone uns und dem Kino zumutete. Auf einen Begriff gebraucht, ist es die Erfindung des Kontrapunkts. Ihn erklärt der Komponist am Beispiel von Il Grande Silenzio (Sergio Corbucci, 1968) wie folgt. “Sound im Film ohne Gleichgewicht zu montieren, kann beides ruinieren, den Film und die Musik, die für den Film ein hinzugefügtes, abstraktes Element ist, und auf keinen Fall reine Pflichterfüllung. Wenn wir sie aber wirklich hören wollen, müssen wir sie freistellen.”
So gesehen, kommt das Hören von Tönen einem synästhetischen Erleben gleich. Musikalische Töne werden Bilder: Nicht jede/r kann in der Fanfare aus C’era una volta il West/Spiel mir das Lied vom Tod (Sergio Leone, 1968) den ursprünglich gedachten Schrei eines Coyoten heraushören und “sieht” das Tier – Unheimliches und latente Gefahr aber sehr wohl. Es ist einer der Vorzüge der Dokumentation, dass zahlreiche filmerklärende Clips demonstrieren, wie Töne das Erleben im Kino bereichen. Und was für Filme Morricone bedient hat: Das reicht von den Anfängen der Kunstfilmer Bertolucci und Pasolini über Außenseiter wie Petri, Genrefilmer wie Argento zu Pontecorvos Meilenstein Battaglia di Algeri (1967) und internationalen Publikumserfolgen wie Once upon a Time in America (Sergio Leone, 1984) sowie die bekanntesten Italowestern; daneben viel echte italianità, wie die Taviani-Brüder, die in Ennio einen lustigen Auftritt haben.
Ennio ist der Blick in den Fundus eines Kino-Magiers. Neben vielen Wirkungen, die Morricone kreiiert hat und die man nun mustergültig nachvollziehen kann, gibt es eine zweite Entdeckung zu machen. Morricones Lehrmeister, neben seinem Vater, einem Trompeter, war Goffredo Petrassi; von dem Komponisten und Dozenten an der römischen Accademia di Santa Cecilia bezog der Lernende Anregungen aus der Musik concrète, der Zwölftonmusik, mit einem Wort, aus der Avantgarde. Petrassis Anerkennung des Schülers kam spät, doch sie kam. Andererseits stellt sich mit Ennio das sichere Gefühl ein, dass Morricone seinen Weg auch ohne viel Lorbeer gegangen wäre. Nur wenige Jahrhundertkünstler, vielleicht nur Pablo Picasso und Frank Zappa, haben Ähnliches geschafft: Mit großer Passion ihr Gebiet zu revolutionieren und dabei noch ein breites Publikum zu begeistern.