Vor wenigen Tagen saßen wir im Freiluftkino am Aufsessianum in Bamberg. Der angekündigte Film war weniger unser Thema als das Internat Aufsessianum selbst, weil hier Das fliegende Klassenzimmer gedreht worden ist, 1973, mit Blacky Fuchsberger als Lehrer Dr. Bökh. Meine BegleiterInnen sprachen darüber, als ob sie den Film gestern gesehen hätten. Dann zeigte mir jemand aus dem Team vor Ort noch den Rest eines Schwimmbeckens, das ebenfalls mitspielte. So geht das Wissen um Filme in den Alltag ein. Manche prägen unsere Jugend wie auch das Erwachsenwerden und -sein.
Kaum bewusst waren uns hingegen die Hinweise, die Dominik Graf in seinem großartigen Dokumentarfilm Jeder schreibt für sich allein in der Causa Kästner gibt. Graf geht es um den Roman von 1933; als Erzähler seines Films stellt er fest, dass sich im Vergleich zu Kästners frühen Kinderbuch-Erfolgen Das Fliegende Klassenzimmer und Pünktchen und Anton hier bereits die neue Zeitrechnung andeutet, in der Wortwahl von “Sturmangriffen” und anderem militärischen Slang “im Krieg” zweier Schulen, dass es gar Anzeichen von Folterpraxis gibt und eine Art Bücherverbrennung, alles natürlich heruntergebrochen auf die Ebene von Schülerstreichen. Daraus wird Grafs große Frage: Wie konnte ein kluger Mann wie Kästner nach 1933 in Deutschland bleiben, ohne die Dinge beim echten Namen zu nennen, immer weiter produktiv zu sein, unter Pseudonym für die Filmindustrie zu arbeiten, die doch allein dem Regime diente?
Wie konnten kluge Menschen wie Gottfried Benn, dem Graf ein ähnlich langes Kapitel wie Kästner widmet, sich zumindest anfänglich für die Nazis begeistern? In diesen beiden prominenten Fällen findet Graf gute Antworten weniger in der Evidenz tatsächlichen Mitmachens als vielmehr im weiteren Verlauf des Lebens und der Position als Person öffentlichen Interesses. Beide Autoren wurden auch nach 1945 gelesen, doch selbst konnten sie den Ruhm nicht mehr ausschöpfen und genießen; ein Makel schien an ihnen zu haften, wenn vielleicht auch nur in der eigenen Perspektive auf sich selbst.
Jeder schreibt für sich allein ist eine Abhandlung über die Konsequenzen des Schreibens unter der deutschen Diktatur, über Autoren, die dem Regime eher zugewandt waren als konträr zu ihm zu agieren; manche Texte troffen gar vor Begeisterung für die braune Herrschaft. Ist ein Hans Fallada noch ein interessanter, da widersprüchlicher Fall, fragt man sich bei anderen Autoren schon, ob ihre Texte der Mühe überhaupt noch wert seien – und wer die Mühe aufbringe, sie noch einmal durchzugehen. Die Antwort ist: Anatol Regnier, Autor des Sachbuchs, das dem Film zugrunde liegt, der uns als Interviewer und Recherchierender nun auch durch den Film leitet. Man muss diesen fast Achtzigjährigen sehen, wie er stets so neugierig wie freundlich mit Graf auf die Zeitreise geht. Zum Beispiel nach Sanary-sur-Mer, in das kleine Hotel und das noch engere Zimmer Nr. 17, in dem Klaus Mann 1933 seinen berühmten Brief an Gottfried Benn schrieb. Die jüngere, elegante Hotelbesitzerin begleitet den späten Besuch aus einer anderen Zeit distanziert-freundlich, doch Regnier weiss genau um die Dimensionen, um die es hier geht, war seine Mutter Pamela Wedekind doch einst mit Klaus Mann verlobt, hatte seine Großmutter Tilly nach dem Tod von Frank Wedekind doch eine lange Liebesbeziehung zu Benn. Graf und Regnier sind klug genug, jeden Fall für sich zu betrachten, vor allem, wenn die Autoren im Lande blieben und reüssierten. Sie nehmen uns mit in die konkrete Umgebung, in die Häuser, in die Familien; so findet man Motive, meint Gründe jedes und jeder Einzelnen zu sehen; so glaubt man am Ende mehr zu verstehen als man dies mit jeder noch so minutiösen germanistischen Abhandlung könnte. Darin liegt der filmische Wert dieser fast drei Stunden Film, die einem nie zu lang werden.
Zwei Trümpfe hebt sich Graf für das Ende auf. Zum einen ist da Günter Rohrbach, seines Zeichens ein Urgestein deutschen Filmproduzentums, zum anderen aber auch Zeitzeuge, denn der sagenhaft wache Rohrbach ist Jahrgang 1928. Seine Kommentare stechen aus der Gruppe der KommentatorInnen noch einmal heraus, die gute Antworten auf die Fragen nach dem Mittun haben; hier ist vor allem der kluge Florian Illies zu nennen, auch der temperamentvolle Historiker Christoph Stölzl oder die strenge Kritikerin Julia Voss. Doch sie sind Nachgeborene, sie kennen, so fasst es Regnier pointiert, im Gegensatz zu den historischen Protagonisten den Ausgang und somit die problematische Wahrhaftigkeit des Hitler-Reiches ganz genau.
Das Fazit: Für die Reflektierteren galt es damals wohl mit der Unsicherheit zu leben, ob das alles so richtig sein könne, was da den Deutschen von ihrer eigenen Führung zugemutet wurde. Viele hegten allerdings keine Zweifel, wie die unsäglichen Autoren Hanns Johst oder Will Vesper. Letzerer hatte zwei Kinder. Die Tochter führt uns nun im Film noch einmal auf die Spuren ihres Bruders, des späteren Autors von Die Reise, Bernward Vesper. Das Romanfragment gilt als Schlüsseldokument des radikalen Flügels der 68er-Bewegung nicht zuletzt aufgrund der schonungslosen Auseinandersetzung mit dem autoritären Vater. Auch die Mutter des gemeinsamen Kindes, Gudrun Ensslin, spielt hier herein.
Film hat die einzigartige Gabe, wie kaum ein anderes Medium in der Tiefe individueller Motive zu schürfen, warum Menschen sich verhalten, wie sie sich verhalten. Für die Zeit der Nazi-Barbarei ist Jeder schreibt für sich allein ein Glücksfall, weil er auf die Seite derer schaut, die mitmachten, statt sich ins mühsame Exil zu begeben. Irgendwann sei ihm klar geworden, sagt Anatol Regnier an einer Stelle, dass auch gute Literatur nicht automatisch auf gute Menschen zurückzuführen sei. So mag man am Ende über eine Einsicht grübeln, die von der Protagonistin eines zeitgenössischen Romans formuliert wird: “Wenn ich schlechte Bücher lese, wirkt das Schlechte in mich hinein und aus mir heraus. Lese ich gute Bücher, wirkt das Gute in mich hinein und aus mir heraus. Wenn ich lüge, verkrümme ich etwas in mir. Sage ich die Wahrheit, richte ich es wieder auf.” (Daniela Krien, Der Brand)