FILMTIPP #119: ANSELM. DAS RAUSCHEN DER ZEIT von Wim Wenders (D 2023). Ab 14. Oktober im Kino.

Bildquelle: Verleih

Für die Vorweihnachtszeit ist wieder einmal ein Künstler-Biopic angekündigt, diesmal zu Edward Munch, dem “Maler und Exzentriker, Begründer des Expressionismus”, ein “ge­triebener Geist” und über­haupt: eines jener Genies, die in alles um­span­nender Ein­sam­keit und Größe die Bildende Kunst angeblich alleine voranbringen.

Ein Missverständnis, das durch schwierige Auftraggeber und anstrengende Lieb- und Lei­denschaften gern noch angeheizt wird. Das Rezept sah man oft an europä­ischen Biogra­phien der frühen Neuzeit sowie der Mo­der­ne bis 1933: Rembrandt, Van Gogh, Picasso et. al. Diese Viten kennen wir bestens auch in filmisch dramatisierter Form.

Doch für die Epoche, die mit dem politischen Kahlschlag und der Neuorganisation von fast allem nach dem Zweiten Weltkrieg begann, greifen solche Erklärungen kaum noch: Schon allein deshalb, weil Maler, Bildhauer und Architekten nicht länger als Ban­ner­trä­ger neuer Auf­fassungen fungierten, die Welt zu sehen und zu inter­pretieren. Die Zeiten der Fanfaren­träger und Herolde, der Avantgarde – im wörtlichen Sinn: hell­wach “vor der Truppe herreitend” – sie waren vorbei.

Insbesondere Maler und Plastiker aus Deutschland hatten nun genug damit zu tun, ihr Ver­hältnis zur Gesellschaft, zum demokratischen System klar darzulegen, wenn sie denn nicht in die Abstraktion, ins Informel flüch­te­ten. Diese Aufgabe stellt sich auch ihren filmischen Chronisten, also Regisseurinnen und Regisseuren, die sich darauf einlassen, ei­nem Kino­pu­blikum das individuelle Werk Bildender Künstler nach 1945 zu vermitteln.

Mancher Dokumentarfilm ist so spannender als ein ausgeschmücktes Künstlerleben; die Gattung wird den Ambivalenzen der Moderne und allem, was nach ihr kam, gerechter.

Joseph Beuys ist das beste Beispiel. Andreas Veiel ist mit seinem Film Beuys von 2017 sehr nah dran am Mann – und am individuellen Mythos. Dem Künstler wird sein Er­we­ckungs­erlebnis “zur Kunst hin” abgenommen, die mär­chen­hafte Bergung durch Ta­ta­ren, die den Kriegsverwundeten mit Filz und Filz gerettet hät­ten. Dieser Anfang wirft ein bezeichnendes Licht auf Beuys’sche Selbststilisierungen auch in späteren Zusam­men­hän­gen. Ein Meisterspiel (1998) spielte hingegen Lutz Damm­beck mit dem Maler, der andere Maler mit Absicht übermalte, dem Österreicher Arnulf Rainer. Zuerst naiv fragend, dann hart­nä­ckig nachfor­schend ge­lang hier die Offen­legung eines Kunstbetrugs und austro-faschistischer Verschwörungen.

Ganz nah, und ohne jeden Arg die reinen Mühen des Kunstmachens spiegelnd, geriet Co­rinna Belz’ Doku Gerhard Richter Painting (2011). Man sieht vor allem die ernsthafte, schweißtrei­ben­de Arbeit, die Richter unternimmt. Den großen histori­schen Kon­text, unverhohlen ebenfalls am Maler Richter, schob Florian Henckel von Don­ners­marck in sei­ner Fik­tion Werk oh­ne Autor (2018) nach. Insbesondere aus dieser An­nä­herung lernt man, dass immer auch die Intention des Chronisten zählt: Im be­sten Fall ein schlauer Zöllner, um es mit der Parabel Bert Brechts zu sagen, der dem Philo­so­phen abver­langt, seine Erkenntnisse auch in nachvollziehbarer Weise weiterzugeben.

Echte Kunst “spricht” nicht. Sie wird zum Sprechen gebracht: Besonders eingän­gig dann, wenn die Aufgabe des Zeigens, Berichtens (und damit auch in-eine-Rich­tung-Len­kens) vom Künst­ler selbst übernommen wird. Auch dafür gibt es gelungene Beispie­le, in jüngerer Zeit etwa The Artist is present (2012). Mari­na Abra­mo­vić nahm sich für den Film einen ausführenden Regisseur. Mit den monatelangen Sessions im MoMA, in de­nen sich die Künstlerin selbst als lebendes Objekt den Blicken des Publikums aus­setz­te, machte sie klar, dass Kunst auch die Lehren der Pop-Moderne gewinn­brin­gend ein­set­zen kann. Den Medien erst einmal ausgesetzt, ist vor allem Performance ge­fragt. Wird die zum Konzept erhoben, fällt neuer Glanz auch auf die leicht angestaub­te Idee des Museums – die Schau war ein Event, die Menschen standen Schlange.

Der Freistaaat von Barjac

Nun also Anselm Kiefer, gesehen von niemand anderen als seinem “Zöllner” Wenders: zweifellos ein Gipfeltreffen der besonderen Art. Wenders sucht den Künstler auf ei­nem Areal von 40 Hektar auf, mit Containertürmen auf Brachen, die an ein San Gimignano im deutsch-deutschen Todesstreifen erinnern. Bewohnt wird es von gegipsten Reif­röcken, die Kiefer mit Objekten statt des Kopfes ver­sieht, seine “Frauen der Ge­schichte und des Mythos” (sie beginnen alsbald wispernd zu kommentieren). Kiefer selbst sieht man zuerst beiläufig, dann in der To­ta­len, ohne sichtbare Familie, unter­stützt im­mer­hin von einem Dut­zend Hel­fern, die mit schwerem technischem Gerät zur Hand gehen.

Kein deutscher Künstler hatte je ein solches “Reich” zu seiner Verfügung, zumin­dest nicht seit Arno Breker, der auf einem Rittergut im Oderbruch seine flankierende Arbeit für den Totali­taris­mus betrieb. Totalitaristisch ist die Kiefer’sche Passion auch, aber es ist die Hingabe ganz und allein an die Ästhetik, die der 1945 nahe der Donau­quelle ge­bo­rene Künstler betreibt, der seit 1992 in Frankreich lebt. Wenders’ Annähe­rung macht auf Anhieb deutlich, dass es nicht um ein Atelier im herkömmlichen Sinn geht, sondern um ein im Grunde extra-territoriales Konzept. Für Kiefer ist das Gelände einer ehemaligen Seidenspinnerei Werkstatt und Fabrik, Bibliothek, Land-Art und Installation im Kleinen wie im Gan­zen. Dazu ein riesiges Archiv, in dem er nichts weniger als die “Haut der Erde”, sammelt: Fotografien, gesammelt in riesigen, steinernen Folianten, die nur er einsieht. Material­be­sessenheit ist auch ein Stichwort, das sich hier aufdrängt.

Anerkennung

Was aus Barjac abfiel (der Künstler hat den Ort mittlerweile verlassen und arbeitet jetzt in der Nähe von Paris) und in den Museen und Galerien aufschlug, ist daher nur der verwertbare Ausfluss einer umfassenden Idee von der Beschaffenheit der Welt. Kie­fer selbst wähnt sich klein: eine kosmische Monade, ein Lidschlag in der Ewigkeit. Er lebt ganz im Jetzt und, als Künstlerstar, irgendwie für sich alleine. Seine Ateliers wurden al­lerdings, wie Wenders in teleskopartigen Re-Stagings zeigt, faktisch immer größer.

So wie der Ruhm. Der setzte, nach zahlreichen binnendeutschen Kontroversen um Kie­fers Bezugnahmen zum Thema Deutschland, Anfang der 80er Jahre mit der Einla­dung zur Biennale in Venedig ein. Am Ende der 80er stand eine Tournee durch die USA mit Stationen in den namhaftesten Museen des Landes, in Chicago, Philadelphia, Los An­geles und New York. Im Katalog der Schau wurde die Kardinalfrage gestellt, die Kiefer seither begleitet: „On Being German and an Artist“ – wie kann das überhaupt gehen? Nicht jedenfalls, indem man die ikonographischen Verdichtungen, wie sie Bei­schriften und Objekttitel bei Kiefer scheinbar deutlich nahelegen, von der Gesamt­er­scheinung der Kunst und ihrer gesellschaftlichen Funktion isoliert. Die Debatten, die damit losgetreten wurden, beschäftigten dann allerdings eher eine intellektuelle Elite.

Kiefer selbst gab seinen Kritikern immerhin reichlich Futter, indem er mythische Erzählungen vielerlei Herkunft bemühte und so nicht zuletzt selbst auf den Schultern von Riesen zu stehen kam (bei Wenders stehen dafür Paul Celan und Ingeborg Bach­mann, mit expres­si­ven Auftritten). Für ein nationales Deutschland steht das alles keinesfalls, auch nicht ex negativo. Vielleicht braucht es ein wenig Abstand, um die Essenz klarer zu sehen, Abstand, wie ihn der Fran­zose Daniel Arasse aufbrachte, in der bis dato feinsten monographischen Analyse des Werks in Buchform (2001).

Kiefer selbst bleibt in den Erklärungen seiner Absichten eher deutungsresistent. Das Werk soll sprechen. Beipackzettel können Marken auch entzaubern. Dafür beherrscht Kiefer die Kunst der Andeutung: Er legt Assoziationen nahe, die allein dem Material zu entneh­men sind. Wenn er mit dem Flammenwerfer Stroh verbrennt, das wie­derum als Bild-Ob­jekt „verbranntes Stroh“ verbleibt, mag man Vergeltungs­aktionen an der Zivilbevöl­ke­rung in echten Kriegen assoziieren. Die überwachsenen und gleich­sam mumifizierten Kriegsflieger, die einst begeisterten, sind aber seltsam museal ge­worden. Die provozierende Geste, mit der er um 1970 begann, sie hat nachgelassen: Seit langem ist Kiefer nun auch einer der kapitalträchtigsten, global gehandelten Kunst­lie­feran­ten.

Solche Kunst ist wichtig schon deshalb, weil sie den rebellischen Gestus des Genies, das erst einmal unverstanden bleibt, zum demokratischen Kanon hinzuaddiert. Am Ende stützt sie das System: Wenn sie denn im Museum ankommt, das gerade in vermeintlich kritischen Zeiten wie diesen wieder enormen Zulauf hat.

Wenn Kiefer noch einmal, von Wenders‘ Kamera begleitet, nach Venedig reist, dann nur, um sich und seine Arbeit an Jacopo Tintoretto zu messen, einem anderen, in megalo­manen Sinn „in der Kunst Eingeschlossenen“ (J. P. Sartre). Von seinem Wesen her ist Anselm Kiefer Solipsist. „Ich arbeite nur, damit ich überrascht werde“, hat er in einem Interview gesagt. „Wenn das Spiel fest wird, wird es Ritus.“ Auch der Künstler ist gespannt darauf, was die Kunst mit ihm immer wieder neu und anders werden lässt.

Echte Kunst spricht nicht. In: epd Film, H.10/2023, S. 22-23.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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