Die Deutschen führen mit dem Auto auf einen Parkplatz am Waldrand, heißt es in einem Katalog zum Thema Die Deutschen und ihr Wald, um danach beschwingt und gemeinhin eher ziellos im Wald herumzuwandern. So halten wir es mit Goethe: “Ich ging im Walde / so für mich hin / und nichts zu suchen / das war mein Sinn.” Wer aber nichts sucht, der findet unter Umständen doch. Oder er wird gefunden, und dann droht Unheil. Die Idylle des Waldes ist schon unter Schillers “Räubern” mit viel Aufruhr verbunden. Im Sturm und Drang des Dichters Heinrich Heine kommt aus dem Pariser Exil vor allem die verlorene, doch heiß ersehnte Heimat hervor; mit seinen Eichen und seinen Linden, so das vielzitierte Sehnsuchtsbild, werde man Deutschland ewig wieder finden.
Es schwingt oft Dräuendes, Drängendes mit, wenn vom Wald gehandelt wird. Und der Wald scheint speziell für uns Deutsche eine Projektionsfläche, eine Utopie, davon sprechen die Eichenblätter auf unseren Münzen ebenso wie als das ewige Schmuckmotiv auf Uniformen. Die letzten Versuche, die Deutschen kollektiv in kongruenter Harmonie mit dem Wald, und sei sie auch noch so forciert, zu beschreiben, datieren freilich aus fernen Zeiten: “Die Deutschen als Waldvolk” hieß im Untertitel der NS-Kulturfilm Ewiger Wald (1936), der derart missglückte, dass ihn selbst unter der Glasglocke des Regimes niemand freiwillig sehen wollte. Merkwürdig aus der Zeit fallend auch Ernst Jüngers Essay Ein Waldgang von 1951; der Philosoph geht in den Wald, um eine “natürliche Ordnung” wiederzufinden: “Zum Mythischen kehrt man nicht zurück, man begegnet ihm wieder, wenn die Zeit in ihrem Gefüge wankt, und im Bannkreis der höchsten Gefahr.”
Tatsächlich eine Behausung im Wald findet dagegen eine vielköpfige Flüchtlings- und Partisanentruppe in Edward Zwicks Kriegsdrama Defiance (2008, mit Daniel Craig), nach “wahren Begebenheiten” im heutigen Belarus; hier ist der Wald tatsächlich Zufluchtsort von Bedürftigen vor dem Feind – in Gestalt der deutschen Eindringlinge.
Fern und nur medial nah, das ist der Wald für uns Deutsche aber schon viel länger. Die Märchen der Brüder Grimm nehmen den Wald als Hort des Fremden und Unheimlichen; ebenso muss sich der Held Siegfried in Fritz Langs Nibelungen (1922) durch einen Odenwald schlagen, den intrigante, verwachsene Waldmenschen und ein Drache bewohnen. Der Wald hat weitere Konjunktur in den Medien: eine Konjunktur des Unheimlichen. Zuletzt hielt er Einzug in ein Filmgenre, das die Deutschen sonst eher meiden, den anspruchsvollen Horrorfilm. Schweigend steht der Wald von Saralisa Volm nach einem Roman von Wolfram Fleischhauer soll im Oktober 2022 in Kino kommen.
Wald, das ist also nicht nur eine größere Zahl von Bäumen. In der Geschichte der Ideen und Visionen hat Wald stets mehr bedeutet: für Kinder der Ort, wo das Böse in mannigfaltiger Gestalt wohnt; in der Romantik ein Freiraum für das schwärmende Individuum; im Horrorfilm treiben “da draußen” gestörte Menschen ihr Unwesen; im Abenteuer-, Survival- und Kriegsfilm nutzt der Feind den Wald für lebensbedrohliche Hinterhalte. Und bis zuletzt ist der Wald nicht zuletzt ein Kampfplatz für politische Ideen gewesen, man denke an den Hambacher und den Dannenröder Forst, an Wackersdorf oder an die Entwaldungsaktionen in Entwicklungs- und Schwellenländern. Und an den Klimawandel.
“Der Wald, als Forst längst in die Logik der Kapitalverwertung hineingezogen, muss immer noch als Sinnbild eines gesünderen, naturnäheren, menschengemäßeren, ganzheitlichen Lebens herhalten”, schreibt der Autor und Politologe Johano Strasser in einem vorzüglichen kleinen Überblick zum “Thema und Wahn”. Wie um dem entgegen zu wirken, gibt es neuerdings Filme wie Der wilde Wald (von Lisa Eder, D 2021), ein dokumentarischer Versuch, zum “Ding an sich” zu gelangen, den nicht mehr ausgebeuteten, allein zum Besuch genutzten Wald, den Menschen als Gäste betreten und nicht mehr als Ort für die eigene Se/h/nsüchte, Ängste und Neurosen. Noch anders theoretisch formuliert, den sie somit wie das Kino neu beträten, mit einem perspektivierten statt einem privilegierten Blick.
“Der Wald als das Undurchdringliche, Unheimliche, das den Geist zugleich verwirrt und erfinderisch macht, in dem man sich verliert, um sich am Ende, wenn man Glück hat oder von einem klugen Schulmeister angeleitet wird, als ein anderer wiederzufinden”, schreibt Strasser, und weiter: “Es war der zugleich imaginäre und wirkliche Wald, der uns erwachsen werden ließ.” Von hier ist es tatsächlich nicht mehr weit zum Kino.