Der Alte Affe Angst. Joseph Beuys und der Coyote. Der sizilianische Leopard mit seiner riesigen Dogge, der sich von “Hyänen und Schafen” bedroht sieht. Der gespenstische “Hase” in Donnie Darko. Der Sänger Van Morrison, der “den Löwen” in sich sprachmalerisch grundiert. Vielerlei Kunst entwickelt offenbar einen Zug zum Tier, sobald dunklere Seiten im Menschen beschrieben werden sollen. Einen Hinweis auf den möglichen Ursprung dieser Ungeheuer gab Johnny Cash am Beginn seiner letzten großen, klarsichtigen Platte: And I heard, as it were, the noise of thunder / One of the four beasts saying / Come and see / And I saw, and behold a white horse.
Nur manchmal sind Tiere im Kino so rein wie das weiße Pferd oder der Pegasus, den ein Kinokonzern zu seinem bewegten Logo gemacht hat. Was man im Kino sieht, ist oft krasser: Ungeheuer, Bestien, die genau hier eben zum come and see, zum “Kommen und sehen” verleiten. Der Baptist Cash hat sich an der Bibel inspiriert. Seine vier Bestien oder Biester finden sich im Siebten Kapitel des Buches Daniel, einem Traum – und gleichzeitig der Blick in ein Bestiarium. “Vier große Tiere” kommen aus dem Meer, das erste “wie ein Löwe mit Flügeln wie ein Adler, die ihm ausgerauft, und ihm ward ein menschlich Herz gegeben”; so geht es dahin bis zum letzten “schrecklichen und greulichen” Tier, stark, mit eisernen Zähnen und Hörnern, die immer neu ausbrechen. Biblisch gesehen, steckt da natürlich der Teufel dahinter.
Fragt man jüngere Menschen nach ihren Lieblingsbestien, Ungeheuern oder Dämonen, kommen nach einem Moment des Erstaunens vielerlei Antworten, doch die Erklärung, warum solche finstere Sympathien bestehen, bleibt diffus. Eher als auf Tiere, wie Kinder dies tun, setzen junge Erwachsene auf Menschen-Bestien, die wiederum das Aussehen von Tieren annehmen oder metaphorisch als solche beschrieben werden. Das abgespaltene Böse ist jedenfalls meist das/der Andere, mit dem man sich nicht zu identifizieren vermag.
Tieren das Fremde & Eigene einfach zu belassen, fällt auch dem Kino offenbar schwer. Der konventionelle Tierfilm zeigt Tiere gern in ihrem Habitat, deutet ihre Instinkte aber wie von Menschen Gewohntes. Disney war hier lange Vorreiter. Ein Schweinchen namens Babe, Bärenbrüder, Ratatouille heißt das Normalprogramm. Dabei würde eine andere Sicht der anderen Seite eventuell mehr Spannung bringen: Haben auch Tiere ihre eigene Sicht der Dinge, ein „unschuldiges Auge“? (s. Abb.) Während des Nachhaltigkeitsfestivals haben wir in diesem Frühjahr den Film Gunda gezeigt, der diese Vermutung aufkommen lässt: die Welt in der Perspektive eines Hausschweins, gesehen mit dem Blick auf den Alltag des Schweins, in dem vergleichsweise wenig bzw. für uns kaum Uninteressantes passiert. Ein Experiment.
Haben Tiere ihre eigene Sicht? Oder sind sie nur von Instinkten getrieben, wie der riesige Bär, der den Revenant Leonardo di Caprio fressen will? Dann wären sie so seelenlos wie die computer generated images, die solche Ungeheuer heute bereits in der Regel fürs Kino beleben. Was echte Tiere mit Menschen machen, die ihnen ein Zuviel an ‘Menschlichkeit’ zugestehen, kann man am Fall Timothy Treadwell sehen (s. Filmtipp 74). Das ist grausam und skurril, schafft aber kaum lustvolle Kino-Angst. An diesem Ort suchen wir lieber Ungeheuer auf, die menschliche Züge aufweisen, im entscheidenden Moment aber abweichen und uns fremd und eben doch ungeheuer bleiben.
Beispiele dafür sind Legion; die Ungeheuer des Kinos sind so vielfältig wie die Menschen, die sich vor ihnen gruseln. Für Kinder kann das eine animierte Frau Malzahn sein, für Fantasy-Fans der Wolf Fenris, für Südamerika-Fans ein Geistwesen wie der Boraro, für hartgesottene Kino-Intellektuelle die Menschenmonster aus Funny Games oder Pasolinis Salò. Filmische Bestien, die sich, wie die letzten Beispiele zeigen, allein durch ihr Tun und nicht ihr Aussehen auszeichnen, haben den Vorteil der Anschaulichkeit. Hier werden nicht mehr individuell-ferne Geschichten erzählt, sondern Parabeln, die vor etwas warnen, über eine latente Gefahr aufklären. Nichts anderes tat Sigmund Freud, als er das Lächeln der Mona Lisa und ihrer Mutter mit einem Traum erklärte, in dem ein Geier mit seinem Flügel – Freud schreibt “Schwanz” – “viele Male” gegen die Lippen des Malers Leonardo da Vinci “gestoßen” habe: So befremdlich die Schlussfolgerung Freuds bleibt, der damit Homosexualität erklärte, sein ‘Beweis’ hat etwas: das unergründliche Lächeln der Frauen Da Vincis.
Es geht auch um Eingängigkeit des Bildes, und um seine darstellerische Qualität. Das haben die Produzenten der wortbasierten Bibel erkannt oder auch die Autoren der antiken Sagen, in denen sich, etwa in den Taten des Herakles, der Beschreibung nach die tollsten Bestien tummeln. Im großanlegten Herakles-Projekt des Filmessayisten Lutz Dammbeck wird der Mythos aktualisiert. Übertragen wird hier der Eintritt des Individuums in die Gemeinschaft verhandelt. Oder auch das Fernbleiben – wenn das “Tier”, wie die einstige DDR-Staatsmacht für den Künstler Dammbeck, zu feindlich bleibt. Nutzen Künstler die Metapher des Tieres, geht es meist um mehr – um den Menschen selbst und sein Einfinden in die Gesellschaft. Und seinen Frieden mit sich.
Das macht noch einmal Johnny Cash deutlich: The beast in me / Is caged by frail and fragile bars / Restless by day / And by night rants and rages at the stars. Man hört den gebrochenen sonoren Bariton, der keinerlei Gewissheit über das fast zu Ende gelebte Leben ausstrahlt. Eine große Performance.