Ausgezeichnet durch seine Erfolge der frühen 60er Jahre, erhielt Michelangelo Antonioni von Carlo Ponti Budgets und kreativ Carte blanche für seine Auslandstrilogie. Blow-up (1966), Zabriskie Point (1970) und Professione: Reporter (1972), spielen in London, den USA, dann quasi überall. Kein anderer als die MGM übernahm den Verleih.
Zum einzigen Mal in seiner Karriere nahm Antonioni mit einem Film aktuelle Ereignisse voraus. Zabriskie Point war bereits in den Kinos gelaufen, als Milizionäre der National Guard des Staates Ohio Anfang Mai 1970 das Feuer auf Demonstranten, vorwiegend Studierende der Kent State University, eröffnete; am Ende des Tages lagen four dead in Ohio in ihrem Blut. Das Ereignis war für die amerikanische Zivilgesellschaft ein ähnliches Fanal wie die Tötung des Studenten Ohnesorg 1967 in Berlin für die deutsche.
Radikal werden oder abtauchen – vor dieser Entscheidung steht der Student Mark, der anfangs mitten in den Auseinandersetzungen von Polizei und Demonstranten steckt. Mark, so teilt er diskutierenden Studierenden mit, will auf keinen Fall vor Langeweile sterben. Auf dem Campus spitzt sich die Situation zu; man sieht Mark nach einer Waffe greifen, unscharf dann einen Uniformierten kollabieren. Mark kapert eine kleine Propellermaschine und verlässt L.A. in Richtung Mojave-Wüste.
Nach einer halben Stunde Filmzeit hat bereits auch eine zweite Welt Kontur angenommen, eine beruhigte Welt mit Regeln und Zielen. Die Sunnydunes Comp., bestehend aus mittelalten Männern in Business-Anzügen, will mit der Hilfe von Wasser neues Bauland in der Wüste erschließen. In diese Welt soll Daria einsteigen, eine Studentin, bislang Aushilfe und nun in ihrem Buick Tourback Sedan unterwegs zum festen Job.
Obwohl der politisch radikalisierte Mann die Story antreibt, ist Daria das zentrale Element des Films – die Frau, wie immer bei Antonioni. Daria Halprin hatte indianische Wurzeln, sie ist, wie Monica Vitta, Jeanne Moreau und andere, auf ihre Art schön. Ein Blickfang und doch ein prototypischer Aktant Antonionis: Sie verhält sich phänomenologisch zu ihrer Umwelt, sieht und berührt Dinge, versichert sich (und uns), dass die Welt da ist und studiert, wie sie funktioniert. Daria ist eine weitere Suchende, eine Testende, und, in glücklichem Fall, eine Erkennende. Auf Vieles lässt sie sich spontan ein und kreiiert so filmische Momente. Es kommt, nach allen Story-Wendungen, kaum überraschend, dass sie selbst nicht im kapitalistischen System endet. Dafür haben wir mit ihr viel verstanden von der latenten Gewalthaltigkeit einer bestimmten amerikanischen Art des Zusammenkommens: Daria im Dialog mit einem Streifenpolizisten, mit skurrilen alten Männern am Tresen, im Gerangel mit frühreifen Jungs, alleine in der Pampa.
Antonioni übernimmt diesen testenden Blick in seiner Sicht auf die USA. Seine Kamera scheint selbst Zeit zur Orientierung zu brauchen; Ausdruck davon sind unscharfe, dezentrierte Bildern vom Campus ebenso wie hektische Fahrten und Zooms auf Billboards, die so als Zeichen enthemmter Waren- und Werbewelten kenntlich werden. Ab der Mitte des Geschehens, das sich in die Wüste verlagert, behaupten zwei kinematographische Visionen dann das Gegenteil: für das Publikum “gesicherte” Bilder in Gestalt zweier Vorstellungen, von denen die eine von heute aus misslungen, die andere dagegen immer noch gültig erscheint. Die Romanze von Mark und Daria wird zum Love-in vieler Personen, in dem die beiden sexes wie junge Hunde miteinander im Sand tollen, angetan mit hautfarbenen Ganzkörperanzügen – doch kaum wirkungsvoll erotisch und sexuell “befreit”. Darias Vision der explodierenden Villa in der Wüste hingegen bleibt ein kinematographischer Coup. Sie ist bestimmt durch einen warhol’schen Zwang zur Wiederholung und eine ausufernde Betonung des Details, die amerikanische Pop-Art aufruft, indem sie in extremer Zeitlupe wieder und wieder dem reinen Zeigen verfällt: dem Zeigen von Ereignissen, die eigentlich nicht stattfinden. Das ist auch eine Metapher fürs Kino.
Ähnlich hat sich Antonioni immer am ästhetischen Diskurs auf der Höhe seiner Zeit und Reichweite abgearbeitet. Über die Trilogie L’ Avventura, La Notte und L’Eclisse mit ihrer Infragestellung der neureichen Bourgeoisie im Nachkriegsitalien ist viel geschrieben worden; sie gilt als das Erneuerungsmoment, das der Ferrarese und spätere Römer Antonioni in die Filmgeschichte eingebracht hat. Dazu sollte man unbedingt noch La Senora senza Camelie (1955) nehmen, die erste Reflektion einer alten Ordnung des Sehens, hier: des Sehens in und von Cinecittà. Wieder ist es eine schöne Frau, Lucia Bosé, die eine überkommene Ordnung anzweifelt. Wenn man will, könnte man diese Ordnung eine männlich konnotierte Zentral- und Bedeutungsperspektive nennen.
Erst Blow up (1966) hatte wieder einen Mann zum Protagonisten, einen Modefotografen in London, der nicht umsonst nur Produkten aus seiner Dunkelkammer vertraut, die er selbst auf unbelichteten Film gebannt hat: das ist für ihn Realität, die er im Lauf des Films gleichwohl anzweifeln muss. Am Ende versteht der androgyne Streuner durch die Großstadt, der wenig ernst nimmt, für den alles Spiel ist, der andere benutzt und nur das Ästhetische für echt hält, am Ende erkennt dieser Wanderer, dass es noch mehr braucht, um Wahrheit zu erkennen: Es braucht das Zuschalten der eigenen Phantasie inmitten der schneidenden Klarheit des Intellekts, wie sie Antonioni-Filme generell ausmacht.
Diese Aufgabe, diesen Anspruch gibt der Regisseur an uns weiter. Wir können uns für Modefotografie, für die Metropole der hedonistischen Popkultur, für Crime- und Sexgeschichten und dem theoretischen Artefakt über die Wahrnehmung von fototechnisch generierten Bildern interessieren. Für den Medientheoretiker ist Blow up vor allem verfilmte Theorie. Als wir vor Jahren gemeinsam mit der Mainzer Filmwissenschaft nach einem Film suchten, der eine Summe der vielen Ansätze, Film wissenschaftlich zu erklären, repräsentieren könne, der Narratologie, Gendertheorie, Bildtheorie, das neoformalistische Credo und auch die Psychoanalyse in gleichem Maß veranschaulichen könnte, fiel die Wahl auf den “komplettesten” aller Filme: auf Antonionis Blow-up.