Eine spannende Frage der neueren Kunstgeschichte ist, was nach 1945 in den bisherigen Sparten geschah, in denen sich bildende Kunst bis dato in der Hauptsache manifestiert hatte – das waren vor allem Malerei, Grafik und Skulptur.
Etwa zehn Jahre hatte die klassische Kunst noch einmal Zeit, sich zu positionieren, ehe POP das Zepter übernahm; Pop hieß: neue Objekte, neue Vertriebswege, neue InteressentInnen und vor allem Verbrauch, nicht Verbleib.
So kam die Idee des genialen Künstlers ebenso in eine Krise wie die Bereitschaft des Publikums, sich in erratische Werke zu versenken, um irgendwelche Geheimnisse zu ergründen. Was nicht exzentrisch, unmittelbar einsehbar oder mindestens dekorativ daherkam, geriet ins Hintertreffen. Darauf reagierten vor allem amerikanische Künstler mit großer Bemühung. Michael Rottmann hat in einem verdienstvollen Buch nachgewiesen, wieviel Überlegung in der Konzeptkunst um 1960 steckte: stets haptisch/anschaulich, kontextbefreit, selbstreflexiv, noch und nur Kunst (M. Rottmann, Gestaltete Mathematik. Geometrien, Zahlen und Diagramme in der Kunst in New York um 1960. Mel Bochner – Donald Judd – Sol LeWitt – Ruth Vollmer. München 2020).
Ein Film, als Kunstwerk betrachtet, hat aber nicht die eine Schauseite, den einen Anblick, sondern viele Stellen, an denen er sein Publikum überzeugen kann. Methodisch bedeutet das zunächst, dass man den Film nicht an einem Punkt anhalten sollte und ein Bild (oder etwas ähnliches, wie ein Filmplakat) erhielte, das alle Geheimnisse enthält und enthüllt. Film entfaltet sich in der Zeit. Die oft gestellte Frage nach der eigentlichen Bildgestalt, dem wahren Charakter des Films muss das berücksichtigen. Das Schlüsselwort für den Bildcharakter des Films ist daher Komposition. Dies geht nun wiederum eigenartig zusammen mit den geometrisch-morphologischen Interessen der frühen amerikanischen Concepts Artists; Klarheit und Einsichtigkeit der Form gilt ihnen ebenso viel im Blick auf das Einzelwerk wie auf dessen Ort im Ganzen, in einem morphologisch verstandenen Konzept der Gesamtkunstgeschichte. All das lässt sich auf Filme übertragen.
In diesem Sinne schreibe ich heute über den einen, wenn nicht den populärsten Film aus der klassischen Phase Hollywoods. Casablanca löst in vieler Hinsicht Fragen auf, die sich an einem Kunststück aus des Mitte der arbeitsteiligen Grand Production (D. Bordwell) Hollywoods entwickeln lassen. Über die Entstehung des Films erteilt eine souveräne Monographie von Aljean Harmetz Auskunft (Dt. Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen. Wie Casablanca gemacht wurde. Berlin Verlag 2001). Schon diese Annäherung zeigt, dass es Sinn macht, zumindest für Hollywood vom klassischen Werkbegriff auszugehen, von einem fertigen, festgefügten Objekt, nicht vom fluiden, sich am Ende auflösenden Kunstbegriff des 20. Jahrhunderts. Der Film als Gattung steht somit irgendwo zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert und überbrückt das dazwischenliegende. Als Einzelstück hat er (mindestens in diesem Fall) eine bernsteinhafte Schönheit, im Ganzen geht die Entwicklung aber zum offenen System, das aus sich selbst heraus lebt und in seiner Interpretation nie abgeschlossen ist. Zur Illustration dieser Sachlage benutzen wir eine Grafik des Malers und Theoretikers Ad Reinhardt (1913-1967), der damit die ursprünglich die Entwicklung der modernen Kunst in den USA illustriert hat. So verweisen wir auf die Genese des Films im amerikanischen Studiosystem und deuten doch eine offene Zukunst an.
Ein Mann lässt eine Frau gehen, obwohl er sie und sie ihn liebt. Das ist die gängige Lesart des legendären Melodrams aus Hollywood. Beginnt man über Casablanca als Film des Herstellungsjahres 1942 nachzudenken, in dem sich die Zeitgeschichte spiegelt, vermehren sich die Interpretationsmöglichkeiten bereits. Allein das Datum, das Humphrey Bogart eingangs auf einem Scheck einträgt, ist signifikant: Es geht um die Tage vor dem 7. Dezember 1941, dem Tag von Pearl Harbour, als japanische Flugzeuge im Pazifik die amerikanische Flotte attackierten und die USA in den Krieg eintraten. Casablanca war auch ein Kriegseintrittsbegründungsfilm.
Und dann ist natürlich auch der Rang des Kinoklassikers zu beachten, der den Film als Synonym von Hollywood schlechthin hat werden lassen. Der Kult setzte erst mit dem Tod Bogarts im Januar 1957 ein. Wenige Wochen später begannen Studierende der Harvard University, die Erfolge des Schauspielers neu zu sichten; daraus entwickelte sich der Ritus, die besten Dialoge gemeinsam mitzusprechen. So kristallierte sich die offenkundigste Stärke des Films heraus: Er ist voller Sätze, die nicht nur in diese Story passen, sondern als vielfach anwendbare Regularien, als Ratgeber für vielerlei Situationen des Alltags auf Dauer funktionieren. Hier erreicht Casablanca seine universelle Dimension. Eine Auswahl gefällig? Sascha, der Barkeeper: Yvonne, I love you, but he pays me.– Cpt. Renault: What in heaven brought you to Casablanca? Rick: My health, I came to Casablanca for the waters. Renault: But we’re in the desert? Rick: I was missinformed.– Hauptmann Strasser: What is your nationality? Rick: I’m a drunkard. Renault: And that makes Rick a citizen of the world.– Ilsa: Rick, who is he? Renault: Well, he’s the kind of man, that, if I were a woman, and if I wouldn’t be around, I should be in love with.– Rick: Of all the gin joints in all the towns in all the world, she walks into mine.– Rick zu Ilsa: You can tell me now, I am reasonably sober.– Renault: I have no conviction. I blow with the wind. And the prevailing wind happens to be from Vichy.– Annina, Exilierte aus Bulgarien: What kind of man is Cpt. Renault? Rick: Just like any other man, only more so.– Renault zu den beiden Verlobten aus Bulgarien: Come to my office in the morning. Der junge Mann: We’ll be there at six. Renault: I’ll be there at ten.–
Das kann man als Sammlung von Klischees verstehen, wie der Intellektuelle Umberto Eco. Oder als Ausdruck der Fähigkeit Hollywoods, trivial zu wirken und im gleichen Moment eine Intelligenz der Weltaneignung zu zeigen, mit der jede/r im Publikum etwas anfangen konnte, etwas anfangen kann. So ist dieser Film zu verstehen: als Ausdruck einer Kunst, die nicht abgehoben, nicht das Vergnügen der happy few ist, sondern allen auf Dauer zugänglich.
In unserer Anpassung der Grafik Ad Reinhardts auf das klassische Hollywoodsystem schält sich der Ort heraus, an dem Casablanca hier anzusiedeln wäre. Auffällig sind die Kennzeichnungen, die den Film über individuelle Beiträge hinaus, und seien sie noch so genial und künstlerisch, zu einem Produkt Hollywoods machen: die industrielle Herstellung und massenmediale Verteilung von Filmen, die dennoch Kunst sein können.