FILMTIPP #111: FILME UND TIERE (4). EO VON JERZY SKOLIMOWSKI (POLEN/ITALIEN 2022).

Foto: Festival du Cannes

Äußerst lehrreich, zudem unterhaltsam zu lesen sind Quentin Tarantinos Erinne­run­gen an seine Kino-Sozialisation im Los Angeles der 70er Jahre (Cinema Specu­lation, Kie­pen­heuer & Witsch 2022). Der Bub (Jahrgang 1963) wurde schon im einstel­ligen Alter von Onkeln und Freun­den der Mutter in harte Filme mit­ge­nom­men, hart insbesondere für ein Kind: Bullitt (1968), Dirty Harry (1971), De­li­ve­ran­ce (1972) und Taxi Driver (1976) waren frühe Kino­er­lebnisse des Regis­seurs to come. Tarantinos Kommentare sind auf­schluss­reich auch mit Blick auf die eigenen, ebenfalls nicht gerade gewaltarmen Kinofil­me seit Pulp Fiction (1993).

Ähnlich früh prägende Kinoerfahrungen hat hierzulande kaum jemand zu bieten, dafür sorgen die FSK, verantwortungsvolle Kinobesitzer sowie Eltern. Und doch zeigt sich immer wieder, dass Men­schen, die Filme lieben, genauso von ihren Primärer­eindrücken geprägt sind: Auf frühe Lieben kommt man eben, wie im richtigen Leben, gerne zurück. Das frühe Erleben muss auch nicht unbedingt im Kino statt gefun­den haben, wahrscheinlicher ist bei uns eine gemischte Kino- und Fern­seh­so­zia­lisierung. Wäh­rend das Kino zu­mindest in der Provinz nämlich selten Aufre­gen­des zu bie­ten hatte, rutschte im Fernsehen schon mal ein Autoren­fil­mer wie Fass­binder durchs Raster, von dem ich im heimischen Wohnzimmer früh Wildwech­sel ge­sehen ha­be, oder Skoli­mows­kis Deep End (1971), den ich als gerade­zu por­nogra­phisch erinnerte, bis mir vor einige Zeit die DVD in die Hän­de kam: Von Hardcore konnte dann keine Rede mehr sein, nur von schwierigem Sex.

Ein kleiner theoretischer Einschub: Film sind nicht nur historische Artefakte, sie werden vor allem auch historisch wahr genommen. Dass sich ein Kunstwerk im Lauf der Zeit “ändert”, liegt in seiner Aufnahme oder Ablehnung durch den spezi­fischen Blick einer bestimmten Zeit; im Fall des Films sind dies, anders als im Fall von bildender Kunst oder Literatur, weniger Ep­ochen- oder Gene­ra­tions-Perspek­tiven als Lebensphasen des Individuums. Weil Emotionen beim Film die bedeuten­dere Rolle spielen als vorderhand der Intellekt?

Die Frage lässt sich am kleinen, doch wichtigen Genre Tierfilm beantworten. Man kann zum Beispiel das Dschungelbuch auf zwei Arten sehen: Indem man sich den Gefühlen überlässt, die mit dem Primärlebnis zu tun haben, indem man al­so sich sprechenden, singenden und tanzenden Tieren hingibt und vielleicht noch einmal “Pro­bier’s mal mit Gemüt­lichkeit” mitsummt. (Taran­tino be­schreibt die emotionale Kehrseite: “Bambi” – gemeint ist der Tod von Bam­bis Mut­ter – “war am Schlimm­sten”). Oder man lehnt sich zurück, setzt die Intel­lek­tuellenbrille auf und bleibt “außen vor”; dann sieht man in erster Linie das Prinzip der Anthropo­mor­phi­sierung am Werk, das seit Äsop, La Fon­taine und den Brüdern Grimm Tiere vermenschlicht, um die entsprechenden Fabeln für Menschen ver­steh-, mitfühl- und betracht­bar zu machen. Für Menschen, nicht für Tiere.

Der polnische Altmeister Jerzy Skolimowski (geb. 1938) hat im eindrucksvollsten Film des Jahres 2022 einem Tier seine Seele weitestgehend gelassen – einem klei­nen grauen Esel, der in der Realität des Drehs von sechs Artgenossen verkör­pert wur­de. Doch Esel bleibt hier Esel bleibt Esel. Man sieht keinen Moment lang in das Tier hinein oder ahnt, was es fühlt. Er hat daher auch kei­nen Namen wie das ein­deutige Vorbild, Au Hazard Bal­tha­sar (1966) von Robert Bres­son, einem Film, der das Elend eines Esellebens im Dienst der Men­schen zeigt, fast nur in halbnahen und nahen Einstel­lun­gen, und schon deshalb zu Recht berühmt ist; Skoli­mo­ws­ki sagt, während jenes Films habe er im Kino zum letzten Mal geweint.

Wie der Esel bleibt uns der Titel fremd – EO ist “I-Ah” auf Polnisch. Das ist das kleine Zugeständnis des Regisseurs, der seinen Protagonisten irgendwie be­zeich­nen muss; doch dieser Esel ist, anders als Balthazar, nicht sprichwörtlich störrisch (das ist er nur in unse­ren Augen), und er flieht nicht von Station zu Station einer Odys­see (das lässt nur die Story so aussehen). Er ist mal da, mal weg, reagiert nur im­mer situa­tiv, nach seinen In­stink­ten, bis zu dem tragischen Punkt, an dem er ein­mal falsch agiert – weniger eine Entscheidung trifft als nur mit falschen Kollegen den falschen Pfad entlang zu trotten.

Was die Menschen sich gegenseitig antun, nimmt dieser Esel nicht wahr; die für uns auf­re­genden Momente, ein wahrer Tarantino-Moment gar, finden in der Sphä­re der Menschen statt. Sie agitieren uns; der Esel geht seiner Wege. Ob er sich wun­dert über die vielen Bilder anderer Tiere, oft toter Tiere, ist nicht auszuma­chen. Sie scheinen einfach anders, so wie Tiere für uns anders sind, als tote oder lebendige Materie.

Das Fazit noch einmal mit Quentin Tarantino, der einen klugen Satz über einen anderen, älteren Film geschrieben hat. Wir ersetzen an dieser Stelle lediglich den Filmtitel: “EO hat eine Geschichte. Aber es ist keine denkwürdige Geschichte, und sie hat auch nichts mit dem zu tun, was der Film in einem auslöst.”

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