Zwei Filme spielen wir dieses Jahr für die Internationalen Tage, die alljährlich stattfindende Kunstausstellung im Alten Rathaus zu Nieder-Ingelheim, das zu diesem Zweck zu einem noblen Kunstforum umgebaut wurde. In den hellen, großzügigen Räumen mit historischem Flair sind im Jahr 2023 Stationen aus Leben und Werk des expressionistischen Malers Ernst Ludwig Kirchner zu sehen.
Zwei Beobachtungen drängen sich auf, wenn man Kunstausstellung und die von dort gewünschten Filme zusammen sieht: Es gibt 1. eine zeitliche Verschiebung. Kirchner war Ende der zehner Jahre in Berlin, nach seinem kriegsbedingten Zusammenbruch und der großen Krise; 1927 und 1931, als die beiden Berlin-Filme herauskamen, befand er sich längst in seinem Davoser Retreat. Der Künstler geht also den Zeitläuften ein weiteres, vielleicht ein letztes Mal voran. 2. Scheint auch die Formensprache der Kirchner’schen Kunst voraus, avantgardistisch eben, und weist dem Film in ihrer Radikalität den Weg. Was die Inhalte angeht, kann man das Ganze mit heutigen Augen auch kritisch sehen. Im Ausstellungskatalog wird es angedeutet: Kirchner hat ein für heutige Verhältnisse anachronistisches Verhältnis zu Frauen, sie waren ihm Musen und Angestellte, er malte sie vorzugsweise nackt. Selbstbestimmt waren weder sie noch seine anderen Modelle: “Der Entwurf eines freien Lebens für alle Beteiligten blieb jedoch die selbstherrliche Projektion des Künstlers.” (ELK – Stationen. Hirmer: München 2023, S. 43)
Da hat es der Film besser, ist er doch bereits aufgrund seines Herstellungsprozesses ein demokratisches Medium und sollte schon qua Geschäftsmodell bei möglichst vielen Zeitgenossen ankommen. Bleibt die Malerei aufgrund ihrer visuellen Wirkung durchaus eine wichtige Bezugsgröße für den Film, lässt die Ingelheimer Auswahl nun auch den Vergleich mit der Literatur zu, den der Film als erzählendes Medium selbst immer wieder forciert.
1929 kam Alfred Döblins bahnbrechender Roman Berlin Alexanderplatz heraus. Piel Jutzis Film – “der Film nach dem Buch” – besteht einerseits aus Einstellungsfolgen des Berliner Großstadttrubels, zum größeren Teil aber entwickelt er sein Thema, das immer wieder scheiternde Resozialisierungsprojekt des Franz Biberkopf, in eher bedächtigen Bildern, die ein eigentlich schon verblasstes Altberliner Lokalkolorit nostalgisch beschwören, in Miniaturen, die mit dem Lebensstil vor dem Ersten Weltkrieg mehr zu tun haben als mit dem Berlin der Roaring Twenties. Klassengegensätze, professionelle Kriminalität, ausbeuterische Prostitution, all solches findet sich hier eher als Mittel zum Zweck. Der avantgardistisch-filmische Stil der Romanvorlage blieb gänzlich ungenutzt. Der wirklich avancierte Film zum Thema, nicht zuletzt auch in seiner Anwendung des soeben “erfundenen” Filmtons, wäre nach wie vor Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder.
In Berlin – Alexanderplatz setzte man eher auf die joviale, körperbetonte Präsenz Heinrich Georges, der mit der neuen Epoche – den modernen Zeiten – nicht mehr zurecht kommt. Und doch ist der Film ein Dokument, das die 20er Jahre aus der Sicht mehr oder weniger “normaler” Menschen zusammenfasst. Er ergänzt den vor wenigen Tagen bei uns gelaufenen Berlin – die Symphonie der Großstadt um die soziale Seite, die Berliner Hinterhof- und Kneipenidylle, mit all den Schattenseiten für diejenigen, die mit dem Wandel nicht klarkommen. Rainer Werner Fassbinder, von Döblin überaus beeindruckt, hat diese Seite der Medaille in einer TV-Serie Anfang der 1980er Jahre mit großem sozialrevolutionären Gestus nochmals aufgegriffen.
Vor dem Film gebe ich eine Einführung “Die Künste der 20er Jahre: Expressionistische Malerei – Literatur – Film”. Dabei werden unter anderem Ausschnitte aus einem eigenen Film zu sehen sein.
Das vergünstigte Kombi-Ticket gilt für den Film und die Ausstellung im Kunstforum im Alten Rathaus. Nutzen Sie die Gelegenheit, sich tiefer auf die faszinierende Zeit der Zwanziger Jahre einzulassen!