Der Erzähler in Jostein Gaarders Roman Der Geschichtenverkäufer hat ein ebenso überbordendes Wissen wie eine lebhafte Phantasie, die er sich bei allen möglichen Gelegenheiten zunutze macht. Er, der auch oft über Filme nachdenkt, hat eine Einsicht, die wir in nutzen können, wenn wir über Kinoerlebnisse und deren Bedeutung für unser Leben nachdenken: “Ich wusste immer den Unterschied zwischen dem, was ich wirklich sah, und dem, was ich angeblich gesehen hatte. Trotzdem kann es im Lauf der Zeit schwierig werden, zwischen wirklichen Ereignissen und erdichteten Erlebnissen zu unterscheiden. Meine Gedächtnis besitzt keine getrennten Kammern für Dinge, die ich gesehen und gehört habe, Dinge, die mir einbilde.”
Dieses Problem, nennen wir es ruhig ein Kino-Syndrom, hat auch Janne, die Protagonistin in Eva Trobischs Abschlussfilm Alles ist gut an der Münchner Filmhochschule aus dem Jahr 2018. Die junge Frau (Aenne Schwarz) trifft auf einem Klassentreffen einen ehemaligen Mitschüler, mit dem sie in Erinnerungen schwelgt, feiert, tanzt, trinkt. Am Ende des Abends fragt er sie, vielleicht schon mit der Ausflucht, es habe etwas mit der Buchung seines Hotelzimmers nicht geklappt, ob er “zum Pennen” mit zu ihr kommen könne. Im Haus von Janne angekommen, bedrängt er sie und missbraucht sie schließlich. Sie lässt das Ganze widerstrebend über sich ergehen. Tage darauf trifft sie den Mann wieder, diesmal an einem Kopierer in ihrer Firma – er ist neu eingestellt und sie muss sich zu ihm und dem vorhandenen Trauma positionieren. Janne versucht die Sache mit sich selbst auszumachen. Sie will kein öffentliches Opfer sein und die berufstätige und selbstbestimmte Frau bleiben, die sie war. Das bringt ihr eine Menge neuer Konflikte. Nach außen wahrt sie die Fassade. Innerlich zerbricht Janne: Nicht spektakulär, sondern langsam und quälend. Manchmal scheint sie sich zu fragen, ob sie sich das Ganze nicht vielleicht doch nur eingebildet habe.
Ein stiller, sehr genauer Film zu einem brisanten Thema und der Beitrag von F!F zum Orange Day. Sexuelle Gewalt ist in Mainstreamfilmen als Sujet ja leider ziemlich beliebt. Unter dem Deckmantel der gerechten Sache wird es gerne mit Gegengewalt und einer anscheinend mehr als angebrachten Rache verhandelt. Ich habe mir zu beispielsweise I Spit on your Grave (Steven R. Monroe, USA 2010) die ganze Akte bei der FSK angesehen, denn dieser Film ist das Schlimmste, was mir in der Rache-Frage bekannt ist. Eine junge, attraktive Schriftstellerin zieht sich allein in ein einsames Haus in Louisana zurück, um an einem Roman zu arbeiten. An einer Tankstelle ihre künftigen Peiniger, vier junge Männer, die sie bald darauf aufsuchen und der Reihe nach vergewaltigen. Die junge Frau kann, schwerst mitgenommen, schließlich durch den Sprung von einer Brücke in einen Fluss entkommen. Wenig später gibt es Anzeichen, dass sie noch lebt. Die Frau nimmt nun grausame tödliche Rache an einem nach dem anderen Täter, und zwar immer in etwa mit der Form der Qual, die zuvor die Männer an ihr ausgeübt hatten.
Die FSK-Akte ist entsprechend dick und bietet selbst so etwas wie ein Schlachtfeld. Der Film wurde zunächst indiziert, also gesetzlich verboten. Die FSK schickte das Machwerk ganze sieben Mal zurück zum deutschen Verleih, ehe eine um 14 Minuten gekürzte Fassung endlich die gewünschte Freigabe ab 18 Jahren erhielt.
Rache ist ja überhaupt ein großes Thema in amerikanischen Filmen, angefangen bei zahlreichen Western über das New Hollywood, das mit Rachephantasien auf doe geographisch weit entfernte, im Bewusststein der Amerikaner aber wohl stets präsente Gewalterfahrung im vietnamesischen Dschungel reagierte. Großen Erfolg hatten dann ab 2014 die John Wick-Filme mit Keanu Reeves. You killed my dog. I’ll kill you. Ist die Kränkung nur groß genug, scheint die Botschaft dabei, kann man in den Vereinigten Staaten getrost zur Waffe greifen. Einen intellektuellen Stolperstein zu dieser Frage hatte immerhin Jodie Foster mit The Brave One (Neil Jordan, 2007) geliefert, in dem der Verlobte einer jungen Frau, ein pakistanisch-stämmiger Arzt, von ein Gruppe aggressiver Männer im Central Park erschlagen, die Frau selbst schwer verletzt wird. Ihre äußeren Wunden heilen; doch heimlich wird sie zu dem Racheengel, über den sie in ihrem Job als Radiomoderatorin öffentlich nachdenkt und mit ihrer Hörerschaft diskutiert. Wird sie auch für uns zur Tapferen, zur Gerechten, wie der Titel des Films suggeriert?
Fast hätten wir bei F!F Promising Young Woman (2020) gezeigt, dessen Botschaft allgemein ebenfalls weitgehend auf Verständnis und Beifall stieß, der auch höchst ambivalent ausgeht. Beim Thema Rape & Revenge gibt es gröbere Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Dennoch ist die Antwort auf unsere Frage nicht schwer, wenn man den Fokus von der Legitimation jedweder Rache auf ein andere Sicht wendet: Denn auch die gerechtfertigste Rache, gerade sie, schafft im Kino den Voyeur, der sich am Zu-Sehenden ergötzt. Ein anderen Vorschlag macht Janne in Alles ist gut. Hier, im Kino, ist alles höchstens gut für uns; in diesem kleinen, wichtigen Film nimmt die Frau alle Schmerzen und die nicht heilbaren Wunden auf sich. Sie lässt uns nur an einer unsichtbaren Qual teilhaben.