Masse und Macht von Elias Canetti aus dem Jahr 1960 ist bis heute die maßgebliche Erklärung zur Regulierung der Körperdarstellung unter dem deutschen Totalitarismus. Das Nazi-Regime ließ Körper durchaus zu, auch nackt, am FKK-Strand, vor allem auch in der Kunst und im Kino. Diese rigiden Körper standen für fast griechisch anmutende Ideale (hatten mit der Idee der Polis aber nichts zu tun). Auf keinen Fall durften sie verführerisch, erotisch, sexuell erregend sein; Triebe sollten nicht geweckt werden. Wenn, dann wurde körperliches Begehren – und auch der Sehtrieb im Kino ist nicht anderes als ein körperlicher Trieb – mit “artfremden” Verführern oder exotisch-erotischen Frauen verbunden. Der deutsche Mann und die deutsche Frau hingegen schlossen ihr sexuelles Begehren in nicht-einsehbare Beziehungsklausuren ein, im Leben und auf der Leinwand. Wenn sie sich die Deutschen jener Zeit einem Körper zugewandt zeigten, so Canettis Hauptthese, war dies der in sich geschlossene, amorphe Volkskörper.
“Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, dass man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen ‘bedrängt’. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Fall sind sich alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. (…) Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich.” (Canetti)
Der ideale Film, um diese Thesen zu illustrieren, ist Jonathan Glazers The Zone of Interest (2023), ein fiktionaler Bericht über das Familienleben des KZ-Kommandanten Höß, der unmittelbar neben dem grauenvollen Ort des Vernichtungslagers eine familiäre Scheinidylle betrieb. Es ist viel darüber geschrieben worden, dass man das Grauen in diesem Film nicht unmittelbar sehen kann, dass nur im Hintergrund die Schornsteine rauchen, begleitet von undeutlichen Schreien und Schüssen. Man weiss als geschichtsbewusster Deutscher natürlich, was in Auschwitz geschehen ist. Doch Grauen ist auch hier zu sehen; es ist da, in der peniblen Ordnung des Haushalts, der absoluten Konformität und Kontrolle des Umgangs miteinander; man meint es noch am penibel geflochtenen Haarkranz von Sandra Hüller zu spüren. Keine passendere, sprich herbere Besetzung dieser Rolle wäre vorstellbar als die zuletzt Vielgepriesene.
Größte Furcht haben diese Menschen tatsächlich, mit dem Ausgestoßenen in körperliche Verbindung zu kommen; die Eingangssequenz von Zone of Interest ist eine Panik-Reaktion auf den unerwünschten Kontakt mit Opfern, von denen sich die gesamte Familie unbedingt fernhalten soll. Alles geht klinisch rein vor sich, selbst der nächtliche eheliche Kontakt, den beide Partner ohne jeglichen Exzess an Leidenschaft hinter sich bringen. Höß’ Affäre mit einer Inhaftierten, die zu einer Schwangerschaft führte, wird hier folgerichtig gewaltsam und unter dem Einsatz von Folter beendet: Der ‘andere’, vermeintlich andersartige Körper muss gleich ganz vernichtet werden. Eindrucksvoll war dieser Vorsatz im übrigen auch zu sehen in dem ungarischen Film Son of Saul, Regie: László Nemes, von 2015. “Sich mit ‘dem Jüdischen’ in einer Masse zu einem einzigen Körper zu verbinden, hätte für den Nazi bedeutet: sich aufzulösen.” (Klaus Theweleit)
Eine zunächst harmlose Variante hingegen leben ein paar Studenten und sogenannte kleine Angestellte aus, in einem Sommer voller Sonne, Baden, Flirten und ‘freier’ körperlicher Liebe, dem Sommer 1942 in Berlin. Hilde verliebt sich in diesem Sommer in Hans und wird von ihm schwanger; als die Gruppe auffliegt und von der Gestapo verhaftet wird, trägt sie ihr Kind im Gefängnis aus. In Liebe, Eure Hilde heißt der neue Film von Andreas Dresen, nach dem historisch verbürgten Abschiedsgruß in Hilde Coppis letztem Brief – ein Film, der im Februar im Wettbewerb der Berlinale lief, aber breit erst im Herbst gestartet wird, wegen des Erfolgs von Zone of Interest, wie es heisst.
Es ist bemerkenswert, dass auch Dresen nochmals neue Bilder für die absolut traumatische deutsche Erinnerung findet – Bilder, die sich wiederum des Körpers bedienen. Dem Zuschauenden förmlich unter die Haut gehen die Sequenzen rund um die Geburt des Babys, das der zum Tode Verurteilten weggenommen wird und in die Obhut einer Pflegefamilie kommt. Und dann die Exekutionen einer ganzen Gruppe von Frauen, unter ihnen Hilde Coppi, mechanisch getaktet und doch von jedem Opfer individuell erlebt und erlitten, bis zum Fallbeil. Viel hat man erfahren von der Widerstandsgruppe um den sogenannten 20. Juli, mehr jedenfalls als von den sogenannten “Roten Kapellen”, die sich lose in und um Berlin gruppierten, ohne dass es zu festen Organisationen gekommen wäre. Vielleicht liegt diese Ungleichbehandlung daran, dass man einen heroischen, mit deutscher Männlichkeit konnotierten Widerstand insgeheim lange höher bewertete als das ‘bunte’, der Sowjetunion zugetanen Treiben jüngerer, möglicherweise auch naiverer Menschen?
Der Film In Liebe, Eure Hilde wird ab Herbst für Furore sorgen, das lässt sich jetzt schon voraussagen. Ein Film für F!F im Jahr 2025?