Um den Film Film Paralelle Mütter von Pedro Almodóvar angemessen zu würdigen, sollte man sich vergegenwärtigen, dass Spanien das letzte Land Europas war, das an seiner Spitze eine Art Alleinherrscher hatte: El Caudillo Francisco Franco wird von der Geschichtsschreibung auch als Generalissimus, als der größte aller Generale oder gleich als letzter Diktator bezeichnet. Angesichts mancher Entwicklung in Europa wäre vielleicht sogar darüber nachzudenken, ob er nicht der erste Typus jenes Staatsmannes war, der ohne größere, kriegerische Ambitionen in der Außenpolitik ein strenges Regime nicht zuletzt gegen die eigene Bevölkerung führte, um an der Macht zu bleiben.
Franco regierte bis zum November 1975. Nimmt es Wunder, dass nach seinem Ende in der spanischen Kultur eine Tauwetterperiode begann, die alles Mögliche ausprobierte, gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich? Auffällig wird das am sogenannten Kampf der Geschlechter. Der herausragende Exponent in diesem Kampf ist kein anderer als Pedro Almodóvar (geb. 1949), der 1975 mit einem Kurzfilm hervortrat und seit 1980 dann mehr als 20 Langfilme lieferte, die sich insbesondere durch krasse Geschlechterverhältnisse auszeichnen. Almodóvar gilt längst als der wichtigste Regisseur des Landes.
Wie kommt es zu einer solchen Einschätzung? Wie kann ein künstlerisches Werk für die Entwicklung und den Ist-Status eines ganzen Landes stehen? Wird Kunst, wird auch Film doch immer zuerst individuell erlebt und kann nie auch nur annähernd zwar Geschichten, aber nicht wirklich Geschichte erzählen – sinnfällig ja die Unterscheidung zwischen story und history –, vielmehr nur an einzelnen Stellen signifikante Episoden an die Stelle des Ganzen setzen. Um hier weiter zu kommen, sei ein Exkurs in die Filmtheorie erlaubt.
Die lange führende filmtheoretische Richtung war, vor dem gegenwärtigen Boom an gender und identity studies, war die neoformalistisch-kognitivistische Richtung. Sie ging davon aus, dass die Rezipierenden, und zwar jede/r einzelne Zuschauer/in, regelrecht mit dem Film zu arbeiten hätte. Dieser werde nicht mehr als reines Sagemedium genommen, ein Mittel zur Kommunikation, gleich einer sprachlichen oder besser noch, einer verschriftlichten Botschaft. Mit dem mysteriösen Fluidum von „Kunst“ ausgestattet, die nie all ihre Geheimnisse preisgibt, vielmehr immer in eine besondere, mit ästhetischen Überschüssen ausgestattete Form gepackt ist, werde es hier zur Aufgabe des Zuschauenden, eine für sich selbst schlüssige “Lesart” zu finden. Je komplexer die sicht- und hörbare Form des Films, umso stärker näherte er sich dann dem art cinema.
Das heisst nun aber keineswegs, dass lediglich Intellektuelle oder Filmtheoretiker Filme verstehen. Filmische Kognitivisten stützen sich vor allem auf die Psychologie; und nicht zufällig leitet sich der Begriff von (lat.) cognoscere gleich “wahrnehmen”, “erfahren”, “erkennen” ab. Erkenntnis und Erkenntnis kann mit Filmen auf vielen Ebenen erzielt werden – sobald auch nur ein Teil einer Geschichte als solche erkannt wird, also auch von Kindern oder kulturfernen Individuen. Der entscheidende Begriff der kognitivistischen Filmtheorie ist der cue – der Hinweis, der dem Zuschauer lediglich angeboten wird; er/sie kann daraus etwas machen, er/sie kann den cue in sein Konstrukt einer Geschichte einpassen, die es zu erkennen gilt, er/sie kann aber auch zum nächsten cue wandern und den vorherigen einfach links liegen lassen. Cues gibt es in Filmen überhäufig, im Prinzip in jedem Bild. Es ist nach Auffassung des führenden Neoformalisten-Kognitivsten David Bordwell (1947-2024) die Aufgabe jedes Individuums, das jeweils Gesehene während des Vorgangs der Erfahrung zu vorläufigen Hypothesen zu verarbeiten, sich dabei auf die eigene vitale Erfahrung und vielleicht noch den Umgang mit ähnlichen Medienerfahrungen stützend, um zu einer individuell sinnmachenden Konstruktion zu kommen.
So ist im Fall der Madres Parallelas schon vorentscheidend, über wessen Schulter, aus welcher Perspektive man die Geschichte wahrzunehmen bereit ist: aus Sicht der arrivierten Janis (Penélope Cruz), der dämmert, dass etwas mit ihrem neu geborenen Kind “nicht stimmt”, oder jener der 17-jährigen Ana (Milena Smit), die ihr Kind in ganz anderen sozialen Verhältnissen empfangen hat. Die Lebenslinien der parallelen Mütter sind per se meilenweit voneinander entfernt. Dann stirbt eines der beiden Babys an plötzlichem Kindstod – alle familär empfindenden Zuschauer werden nun Gefühle entwickeln. Das ist aber noch nicht die Sicht der Väter, die sich oft noch einmal anders darstellt; schließlich gibt es auch Familien und Freundinnen, die bei Almodóvar immer lautstark und temperamentvoll mitmischen.
Wohnen wir nun einem typisch spanischen Familienpatchwork bei? Diese Frage möchte ich verneinen mit dem Hinweis auf eine viel größere, im Grunde globale Konstellation – die der Problematik sich entziehender Väter und infolgedessen auf sich allein gestellter Mütter. Dass Janis (Cruz) sich in einem wichtigen Strang der Erzählung der Exhumierung und würdevollen Beisetzung der Opfer eines falangistischen Massakers in ihrem Heimatdorf widmet, widerspricht dem nicht: die Fragen, wie Männer und Frauen überhaupt zusammen leben können, was Kinder zu einer solchen Situation beitragen und wie “Familie” überhaupt zu leben ist sein könnte, ist einfach größer.
Daher würde ich nicht nur in diesem Fall auf eine weitere “Hilfswissenschaft” zurückgreifen, die in den letzten Jahren, was den Film betrifft, wieder an Bedeutung gewonnen hat: die Psychoanalyse. Von den Neoformalisten/Kognitivisten immer abgelehnt mit dem Hinweis, Filme dienten der psychonanalytisch orientierten Lektüren nur zur Illustration bereits vor der Rezeption feststehender Paradigmen und die aktive Rolle der Zuschauer dabei übergangen, Unbewusstes und Vorbewusstes hingegen stünden in der Filmrezeption (wie auch als Movens der Handelnden auf der Leinwand) zentral. Bei Almodovár kommt nun doch die lange verdrängte, über die Zeit hinaus existierende Gesellschafts- und Geschlechterordnung zum Tragen. Ich halte es nicht für Zufall, dass die überzeugendste deutschsprachige Analyse seines Werkes von einem Autor stammt, der sich an Begriffen wie Urszene, Spiegelstadium, symbolische Ordnung, Trauerarbeit und “das Imaginäre als Motor des Begehrens” orientiert. Das kann hier nun nicht mehr weiter ausgeführt werden. Ich überlasse dem Autor der Studie, dem Frankfurter Filmkritiker Manfred Riepe, aber gern ein kurzes Schlusswort, Es bringt ein Thema von Madres Parallelas auf den Punkt: “Männer zeugen und gehen.”