Sein Name ist absolut präsent, aber man hat Schwierigkeiten, sich an einen neueren Film von Wim Wenders zu erinnern. Am ehesten wohl noch an die Dokumentationen: über den neuen Papst aus Argentinien, den Fotografen Salgado, die alten Herren aus Kuba, die so schön musizierten, die Doku über Pina Bausch. Aber Spielfilme? In den 90ern gab es noch einiges, aber die Titel geraten einem durcheinander. Der Himmel über Berlin und Paris Texas sind aus den 80ern und wirken gealtert; mich begeistert allerdings heute noch Nick‘s Film – Lightning over Water (1980), die poetische Reflexion zum Tod eines Hollywoodregisseurs, gedreht unter dessen aktiver Mitwirkung. Natürlich verdient auch Der amerikanische Freund (1977) Erwähnung, geprägt durch das großartig schiefe Duo Bruno Ganz und Dennis Hopper.
Doch der Film, der Wenders früh zum Klassiker machte, ist Im Lauf der Zeit (im Englischen: King of the Road, von 1976). Am Anfang rast ein Käfer in die Elbe. Der Mann, der sich zu dem unentschlossenen Suizidversuch hinreisen ließ, steigt bald darauf zu einem gleichaltrigen Mann in einen umgebauten LKW. Die Reise beginnt. Es ist Sommer. Aber es wird dann doch weniger eine Reise durch die Zeit als vielmehr durch den Raum: den Raum der deutschen Provinz, wie sie heute noch und wohl noch lange aussieht. Auch die Kinos sterben noch (oder wieder). Nur den Job des Projektor-Reparateurs, den Bruno (Rüdiger Vogler) ausübt, den gibt es tatsächlich nicht mehr. Der Mann mit dem Käfer wird von Hanns Zischler gespielt. Er ist ein Kinderarzt aus München. Aber das spielt keine Rolle.
Das Ufer der Elbe. Ein Fachwerkstädtchen mit Kastenente. Eine Düne, in der Vogler in aller Ruhe ein großes Geschäft verrichtet. Eine aufgelassene Fördergrube bei Nacht, ein Wachtturm zur DDR hin. Ostheim vor der Rhön: oben links in Bayern. Das Kino mit Lisa Kreuzer. Kirchturmspitzen an der alten Zonengrenze. Die Reise an den Rhein. Der unsterbliche Satz „Is obber a Ferngschpräch.“ (Zischler, der ein kluges Buch über Kafka und das Kino geschrieben hat, kann also fränkisch. Er ist in Nürnberg geboren.) Hassfurt.
Hassfurt! So sieht jeder in jeden Film hinein, was ihm am liebsten ist. Schwarze Telefone mit Wählscheiben. Das Michelin-Männchen. Ein Schild mit dem Aufdruck Landesgrenze im deutschen Niemandsland. Man beginnt Dinge neu zu sehen, wenn man Zeit bekommt, sie anzuschauen. Die Zeit lässt einem Im Lauf der Zeit, weil eigentlich nichts passiert. Oder weil das, was passiert, egal ist. Es könnte auch was anderes passieren. Es könnte auch was anderes gesprochen werden. Die Atmosphäre, die von einer so gut wie anonymen Münchner Band mitgetragen wird, bliebe dieselbe. An dieser Stelle entpuppt sich die Schwäche vieler späterer Wenders-Filme: Worte sollen den Bildern Bedeutung verleihen. Viel Bedeutung. Das war schon ein wenig in Alice in den Städten so, dann in allen Filmen mit Handke, und später, als Wenders die Weihen des Autorenfilmers genoß, wie in Palermo Shooting (2008), der das Flair der Stadt überhaupt nicht mehr einfing.
Aufschlussreich hingegen sein Audiokommentar auf der DVD, wo er sich an die improvisierte Entstehung erinnert, das Neu-Sehen und Neu-Schreiben jeden Tag. Die Beschreibung der Entstehung von Kunst sei etwas anderes als Theorie, auch als Philosophie, sagt man. Nach 168 Minuten Im Lauf der Zeit in Schwarz-Weiß ist man im Flow. Es könnte ewig weitergehen.
Die Botschaft des einen Mannes an den andern zum Abschied: „Es muss alles anders werden. So long.“ Mit diesem Film wurde einiges anders. Man konnte die Welt neu sehen. Und das funktioniert mit diesem Film immer noch.
Heute, am 14. August 2020, wird Wim Wenders 75 Jahre alt. Auch die Freunde Ingelheimer Filmkultur gratulieren.
2 Gedanken zu „FILMTIPP #20: IM LAUF DER ZEIT (D 1976). WIM WENDERS ZUM 75. GEBURTSTAG.“
Danke für diesen Beitrag. Einige Wenders-Filme könnte ich immer wieder sehen, dieser – übrigens, soweit ich weiß, noch nie im TV zu sehen – gehört dazu. Ausgerechnet in Shanghai erwähnte ein Student – mein Sprachschüler – einen Film von Wenders mit 2 Männern on the road, ohne dass der Filmtitel fiel oder haften blieb. Ein paar Monate später fiel er mir dann auf unter den Myriaden von raubkopierten Bluerays in China— Auch weil auf der Coverkunst, einer Collage aus Film Still und Autokarte, fast mein Heimatort auftauchte.
Schon die Eingangsszene mit dem authentischen „Interview“ und dem Versprecher „SPD… Sie wissen schon NSPD…. ähm NSDAP“ ist hinreißend, die menschenleeren Straßen und Landschaften, die beiden Typen, der benutzte Umzugswagen mit dem Michelinmännchen (WW ist/war frankophil, natürlich kommt er im Cameo ganz am Anfang mit einem Citroen), aber v.a. die Musik, das meiste von einer jajaja, fast namenlosen Band, übrigens aus Nürnberg, „Improved Sound Limited“, ab 1976 „Condor“ (Soundtrack „Das Brot des Bäckers“), seit 1977/78 nicht mehr aktiv. Das Musik, die ich neben den Goldberg-Variationen von Bach/Gould mit auf eine einsame Insel nehmen würde. Es ist mir ein Rätsel, warum deren Musik im Rundfunk niemals präsent war, obwohl der Spiritus Rektor der Band lange an führenden Stellen beim Bayerischen Rundfunk tätig war. Ich stimme zu, die Handlung ist irrelevant, zumal die gesprochenen Dialoge. Stattdessen berührt der dokumentarische Gehalt: Erstens das deutsch-deutsche Grenzland – die Strecke vom Wendland über den Ostrand der Lüneburger Heide, Elm, Osthessisches Bergland, Rhön und Hassberge bis Hof (tja, zwi. Elm und Osthessisches Bergland ist eine Riesenlücke, die auch Wenders im Audiokommentar nicht präsent ist – völlig ignorant beim Thema des eigenen Films und in Ostheim v.d. Rhön wurde gar nicht gedreht, zwei Stellen in Hassfurt dienen als Dummies dafür); zweitens die damals im Sterben liegenden ländlichen Kinos (seitdem mit vielen Mio. an Subventionen „gerettet“ oder durch Cineplex ersetzt) und Lokalzeitungen – hach!! unser hiesiger „Rhön- und Streu-Bote“ darunter; drittens die Eisenbahn, die immer wieder vorbeifährt. Es ist auch – fast ungewollt – eine Meditation über das Filmemachen in der Zeit damals oder damals schon vormals: Aus dem Rahmen fallendes SW-Filmmaterial aus der DDR, Breitbandformat, alles in Weitwinkel, ohne fertiges Script, mit Schauspielern, die immer wiederholt in Wenders Filmen auftreten (Rudolf Schündler – bekannt auch aus „The Exorcist“, Lisa Kreuzer). Ein totales Einzelstück, unvergleichbar.
Und ja, seit dem ersten Mal Schauen kenne ich diesen Flow aus Melancholie, sehr cooler Musik und in der Landschaft herumfahren, im Truck übernachten.. Nine Feet over the Tarmac….
Muss meinen Post hier korrigieren: „Im Lauf der Zeit“ lief im Fernsehen: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/Im-Lauf-der-Zeit,sendung1086418.html .
Die Sendezeit – zwischen zwei und fünf am Morgen – spricht aber Bände. Da er in der ARD-Mediathek im Feature zu Wenders‘ 75ten auch nicht auftauchte, war er so gut wie nie im Fernsehen.
Roger Ebert fand „Kings of the Road“, erst 1978 in amerikanischen Kinos auch gut. Seine Kritik ist leider so nachlässig geschrieben wie mein längerer Post hier, tut mir leid: https://www.rogerebert.com/roger-ebert/kings-of-the-road