FILMTIPP #22: EASTERN PROMISES VON DAVID CRONENBERG (CANADA-GB 2007). AUF DVD UND (GEGEN AUFPREIS) ZU STREAMEN.

Bildquelle: http://themidnightmollusc.blogspot.com

In seinen ersten 90 Sekunden macht dieser Film klar, dass er auf keinen Fall zum Establishment gehören will. Dem Publikum, für das er letztendlich bestimmt ist, soll das sagen, dass bestimmte Gesetze des Marktes vorsätzlich miss­achtet werden, um bloß nicht zu „bank­able mainstream“ zu sein, das heißt gängige Holly­woodware zu werden. Man kann diese Haltung Indepen­dent nennen. Um zum Inhalt und zur Tendenz etwas deutlicher zu wer­den, ohne viel zu verraten: Nach 80 Sekunden lässt ein einziger Schnitt aus einer FSK Null, die jeder Film zu Anfang hat, eine FSK 16 werden. In einem solchen Moment ist im FSK-Prüfungs­raum oft ein Räuspern zu hören. Oder jemand macht eine trockene Bemerkung. So lässt sich die gemein­sam erlebte Spannung besser aushalten.

Gegen den frühen Schock geht Eastern Promises in vielen Passagen an. Doch immer wieder kommen die blutigen Momente zurück. Eine Frau, eher noch ein Mäd­chen, bringt ein Ba­by zur Welt und stirbt dabei. Eine andere junge Frau (die famo­se Naomi Watts) nimmt sich des Kindes an und versucht etwas über dessen Erzeu­ger heraus­zufin­den. Die Spur, ein Tagebuch, führt sie in eine eigenartige Welt. Öst­li­che Ver­spre­chen – da­run­ter sind die ‚Versprechen‘ zu verstehen, die ein russi­scher Mafia­clan dem auf diesem Ohr eher tauben London macht. Drogen, Schmug­gel, Pro­sti­tu­tion, verbor­gen hinter plüschigem Exil-Luxus, ausgestellt in bru­ta­ler Ge­walt. Ar­min Müller-Stahl spielt den Patron des Clans. Die meiste Zeit wirkt er fried­lich und gütig. Er hat auch immer eine Strick­weste an. Doch wehe, es geht nicht nach seinem Willen. Sein per­ver­ser und zü­gel­lo­ser Sohn Kirill (Vincent Cas­sell) ist nach dem Sonny aus der Paten-Saga mo­del­liert. Wie der scheitert immer wieder an sich selbst. Ins Zentrum rückt der Adjutant und Fahrer Nikolaj – Viggo Mor­ten­sen in einer überraschenden Metamorphose seiner gewohnten Leinwanderscheinung.

Gemeinsam ist allen wichtigen Figuren, dass sie in der Diaspora leben. Die Exil­russen haben beim KGB gearbeitet oder gegen ihn, sie sind böse, charakterlose Tschetenen oder ukrainische Opfer. Alle kranken am Elend der Wurzellosigkeit. Keiner kann aber, keiner will zurück. Ich lebe im Nirgendwo, sagt eine Figur. Da­her Versprechen statt Verbrechen: Nehmt uns auf und integriert uns, so wie wir sind, mag das heißen, oder lasst es bleiben; wir machen unser Ding in die­ser Stadt, die wir nicht verstehen können, nicht verstehen müssen und nicht verste­hen wol­len. Der Clan­chef nennt London die Stadt der Huren und Schwulen, ver­ächt­lich und lächelnd. In vieler Hinsicht kann er gut mit dem sogenannten Abschaum leben.

Interessant ist die Bewegung, die zwischen den Fronten entsteht, wenn Nikolaj zu agieren beginnt. Er hat ein Geheimnis, das ihn antreibt, und er versteht es, mit seiner sanft bestimmten Art selbst den halbirren Kirill zu besänftigen und in die Schran­ken zu weisen. Das Schlussbild gehört Nikolaj. Er hat es fertig gebracht, die Kno­ten der Komplikation zu entwirren und für ein halbwegs versöhntes Ende zu sor­gen. Er ist allein. Die russische Seele hat er nicht verraten. Der Preis ist freilich hoch. Ohne noch viel zu auszuplaudern, sei doch gesagt, dass der Film vorher ein weiteres Mal mit vollem Kalkül auf der Gewaltspur ausrutschte. Die Sequenz in einem Dampf­bad, zu­sammengesetzt aus Film Noir und nobelster britischer Film­ge­schich­te – The Life and Death of Colonel Blimp (1943) beginnt an einem sol­chen Ort – stellt all seine Vorbilder an blutigem Spektakel in den Schat­ten. Was die Ta­bus angeht, sind wir allerdings im Jahr 2007. Hollywood ist derartige Vor­stöße seit 100 Jahren auch gewöhnt und zog noch immer binnen kurzer Zeit nach. Ein Viggo Mortensen, der völlig nackt zehn Minuten lang um sein Leben kämpft, das hat schon etwas. Hollywood hätte das zumindest nicht als erster gemacht.

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