In seinen ersten 90 Sekunden macht dieser Film klar, dass er auf keinen Fall zum Establishment gehören will. Dem Publikum, für das er letztendlich bestimmt ist, soll das sagen, dass bestimmte Gesetze des Marktes vorsätzlich missachtet werden, um bloß nicht zu „bankable mainstream“ zu sein, das heißt gängige Hollywoodware zu werden. Man kann diese Haltung Independent nennen. Um zum Inhalt und zur Tendenz etwas deutlicher zu werden, ohne viel zu verraten: Nach 80 Sekunden lässt ein einziger Schnitt aus einer FSK Null, die jeder Film zu Anfang hat, eine FSK 16 werden. In einem solchen Moment ist im FSK-Prüfungsraum oft ein Räuspern zu hören. Oder jemand macht eine trockene Bemerkung. So lässt sich die gemeinsam erlebte Spannung besser aushalten.
Gegen den frühen Schock geht Eastern Promises in vielen Passagen an. Doch immer wieder kommen die blutigen Momente zurück. Eine Frau, eher noch ein Mädchen, bringt ein Baby zur Welt und stirbt dabei. Eine andere junge Frau (die famose Naomi Watts) nimmt sich des Kindes an und versucht etwas über dessen Erzeuger herauszufinden. Die Spur, ein Tagebuch, führt sie in eine eigenartige Welt. Östliche Versprechen – darunter sind die ‚Versprechen‘ zu verstehen, die ein russischer Mafiaclan dem auf diesem Ohr eher tauben London macht. Drogen, Schmuggel, Prostitution, verborgen hinter plüschigem Exil-Luxus, ausgestellt in brutaler Gewalt. Armin Müller-Stahl spielt den Patron des Clans. Die meiste Zeit wirkt er friedlich und gütig. Er hat auch immer eine Strickweste an. Doch wehe, es geht nicht nach seinem Willen. Sein perverser und zügelloser Sohn Kirill (Vincent Cassell) ist nach dem Sonny aus der Paten-Saga modelliert. Wie der scheitert immer wieder an sich selbst. Ins Zentrum rückt der Adjutant und Fahrer Nikolaj – Viggo Mortensen in einer überraschenden Metamorphose seiner gewohnten Leinwanderscheinung.
Gemeinsam ist allen wichtigen Figuren, dass sie in der Diaspora leben. Die Exilrussen haben beim KGB gearbeitet oder gegen ihn, sie sind böse, charakterlose Tschetenen oder ukrainische Opfer. Alle kranken am Elend der Wurzellosigkeit. Keiner kann aber, keiner will zurück. Ich lebe im Nirgendwo, sagt eine Figur. Daher Versprechen statt Verbrechen: Nehmt uns auf und integriert uns, so wie wir sind, mag das heißen, oder lasst es bleiben; wir machen unser Ding in dieser Stadt, die wir nicht verstehen können, nicht verstehen müssen und nicht verstehen wollen. Der Clanchef nennt London die Stadt der Huren und Schwulen, verächtlich und lächelnd. In vieler Hinsicht kann er gut mit dem sogenannten Abschaum leben.
Interessant ist die Bewegung, die zwischen den Fronten entsteht, wenn Nikolaj zu agieren beginnt. Er hat ein Geheimnis, das ihn antreibt, und er versteht es, mit seiner sanft bestimmten Art selbst den halbirren Kirill zu besänftigen und in die Schranken zu weisen. Das Schlussbild gehört Nikolaj. Er hat es fertig gebracht, die Knoten der Komplikation zu entwirren und für ein halbwegs versöhntes Ende zu sorgen. Er ist allein. Die russische Seele hat er nicht verraten. Der Preis ist freilich hoch. Ohne noch viel zu auszuplaudern, sei doch gesagt, dass der Film vorher ein weiteres Mal mit vollem Kalkül auf der Gewaltspur ausrutschte. Die Sequenz in einem Dampfbad, zusammengesetzt aus Film Noir und nobelster britischer Filmgeschichte – The Life and Death of Colonel Blimp (1943) beginnt an einem solchen Ort – stellt all seine Vorbilder an blutigem Spektakel in den Schatten. Was die Tabus angeht, sind wir allerdings im Jahr 2007. Hollywood ist derartige Vorstöße seit 100 Jahren auch gewöhnt und zog noch immer binnen kurzer Zeit nach. Ein Viggo Mortensen, der völlig nackt zehn Minuten lang um sein Leben kämpft, das hat schon etwas. Hollywood hätte das zumindest nicht als erster gemacht.