Der Film von Rainer Werner Fassbinder, auf den ich immer wieder zurückkomme. Gedreht wurde Chinesisches Roulette fast komplett in einem Herrenhaus, im Film Schloss genannt, in den fränkischen Hassbergen (s. Foto). Bei meinem letzten Besuch fragte ich den benachbarten Bauern, an was er sich noch erinnere. Er berichtete vom jähzornigen Fassbinder, seinem weisshaarigen Freund Volker Spengler, im Film Gabriel, von Party-Services und nächtlichen Feten, er wusste vieles über den Kameramann Michael Ballhaus und dessen Familie, die das „Schloss“ lange besaß, und vom Schicksal aller Geschwister der in Unterfranken bekannten Theaterfamilie Ballhaus.
Ich frage mich jetzt, was solche normalen Leute von dem fertigen Film ehrlicherweise halten würden. Erzählt wird die Geschichte eines Ehepaars der Münchner Haute Volée, das gegenseitig kundtut, auf Geschäftsreise zu gehen, um sich in Wahrheit mit dem jeweiligen Lover auf dem Schloss zu vergnügen. Folglich sieht man sich dort unerwartet wieder. Es sieht sogar so aus, als sei dieses Treffen von der gemeinsamen Tochter des Paares arrangiert worden, die zusammen mit ihrem Kindermädchen am Abend ebenfalls noch eintrifft. Das Oktett komplettiert die Haushälterin, gespielt von der ausdrucksstarken Brigitte Mira, sowie der bereits erwähnte Gabriel, Miras Sohn.
Höhepunkt des Wochenendes wird ein gemeinsames Frage- und Antwortspiel, das „Chinesische Roulette“: Die Hälfte aller Anwesenden sucht sich eine Person aus, die von den anderen Vieren herausbekommen werden muss. Dazu müssen Fragen gestellt werden: Was wäre diese Person, wenn sie ein Tier wäre, was wäre diese Person im Dritten Reich gewesen? Dem aufmerksamen Zuschauer wird bald dämmern, dass die Tochter die Mutter an den Pranger stellt, die sich am Ende dann ihre eigene Rache nimmt. Das Ganze wird zum subtilen Duell zweier Menschen, die sich nicht offen hassen dürfen, weil sie auf keinen Fall voneinander loskommen.
Alle zeitgenössischen Bezüge, die Mode, der Chic der 70er, verblassen derart – ebenso wie mehr oder weniger alle Nebenfiguren, die anfangs noch spannend wirken, doch nicht mithalten, wie selbst der durchaus integer wirkende Ehemann und Vater, ein Ivan-Desny-Typ. Das einzige wichtige Kind in Fassbinders Gesamtwerk ist jenseits des Metaphorischen – das Mädchen ist auch noch gehbehindert – ein Erwachsenenmonster, das ein weiteres Mal die Abrechnung mit der älteren Generation sucht.
Zwei Dinge fallen mir an diesem Film zu Fassbinders Genie ein: Was für ein guter Autor er doch war, zeigt sich in den Fragen und Antworten des „Chinesischen Roulette“. Die Schauspielerführung ist ohne die Verfremdungstricks des absurden Theaters oder auch “Antiteaters“ nicht vorstellbar. Doch die Goldene Palme dieses Films gebührt einem Anderen, dem Kameramann Michael Ballhaus. Visuelle Hilfe hat der sich in zwei Glasvitrinen geholt, an denen er sein Objektiv und die Kadrierung stets ausrichtet: eine kurze Fahrt, ein abruptes Halten, schon wird aus einem Porträt zweier Personen ein Bildkommentar. Unfassbar ist, welche Breite an psychologischem Ausdruck Ballhaus mit seinen Durch- und Spiegelblicken entfaltet, wie sich die Handelnden wahrhaft sichtbar an neue Gedanken herantasten, wie wir als Zuschauer in die Lage versetzt werden, hinter all den Worthülsen nach echten Gefühlen der fassbinderschen Probanden in Sachen gelingender menschlicher Interaktion zu fahnden.
So übertraf Fassbinder sogar seinen früheren Spiegel-Film Fontane: Effi Briest, in dem die extreme Künstlichkeit der Versuchsanordung durch das historische Setting noch viel greifbarer ist. Über diesen Film wurde bei mir einmal ein Referat mit dem Titel „Der Spiegel als „tyrannisierendes Gesellschafts-Etwas“ geschrieben. Das fand ich originell. Seither achte ich auf Spiegelszenen im Film. Verblüffend ist ja tatsächlich, dass jeder ambitionierte Film eine auffällige Spiegelszene enthält. In diesen Momenten zeigt sich immer auch etwas von der Reife des jeweiligen Regiekonzeptes.