Immer noch ist Teamgeist gefragt. Wir müssen weiter als Mannschaft funktionieren. Jeder soll vor allem das tun, was anderen nützt, wie Merkel als Spielführerin, wie der Gesundheitsminister als Spielgestalter, der Finanzminister als Libero. Der Rest der Deutschen soll sinnbildlich im Moment eben auch irgendwo auf- und ab rennen, um den Gegner vom eigenen Tor fernzuhalten. Oder einfach daheim bleiben, um das ganze Spektakel nur medial zu erleben.
Womit sich der Fussball einmal mehr als Spiegel der Gesellschaft bestätigt. Wie sehr er fehlt – auch das zeigt die Krise. Über die Verbindung von Fußball und Kino will ich heute schreiben. Sie sind sich ja so ähnlich: Beide dauern rund 100 Minuten, beide bieten Stars und Spannung, für die ein Publikum gerne zahlt; ein kleines Ensemble führt auf einem begrenzten Feld ein Stück auf, dass Hunderte, Tausende, in den Medien dann Millionen sehen; die Emotionen des Publikums sind das, was am Ende zählt. So gesehen, ist der Fußball selbstverständlich keine Nebensache mehr. Er ist vielmehr ziemlich nah am Kern des gesellschaftlichen Betriebs.
Warum – darüber lohnt sich nachzudenken. Als nacherzählender Film haben Fußball-Geschichten nie recht funktioniert, dafür gäbe es dutzende Beispiele. Wenn aber das Attribut „live“ erscheint, sind die Menschen dabei, erleben mit, identifizieren sich mit dem Ereignis, spüren sich. Ein Spiel am Bildschirm ist der beste Film. So kommen Emotionen über den Fußball in jeden Haushalt. Darum funktionieren Filme mit nachgestellten Geschichten übers Kicken nie. Live ist uneinholbar.
Die digitale Revolution hat immerhin ein Format auf den Weg gebracht, wie man noch am Fussball teilhaben kann, auch ohne ausgetragene Spiele, und das ist die Homestory. Ein Format wie Inside Borussia Dortmund erledigt sich gerade selbst, weil in diesen Zeiten Banalitäten niemand mehr interessieren. Höchst interessant dagegen ist die Serie Being Mario Götze (2018), die als Film auch kurz im Kino lief. Götze, das gescheiterte Wunderkind, versteht sich als Individualist; als solchen porträtiert ihn Aljoscha Pause, mitsamt aufpoppender Peinlichkeiten. Ein Einzelgänger war als Spieler auch Thomas Broich. Tom meets Zizou (2011), ebenfalls von Pause, zeichnete Broichs Weg in die australische Versenkung nach. Der Film war als Langzeitbeobachtung angelegt und ebnete dem Format den Weg.
Was man aus den Filmen über Götze und Broich lernen kann: In Deutschland hatte es der klassische Zehner, der Freigeist, zuletzt schwer. Zwar hing Götze wie ein Brasilianer in der Luft, als er uns 2014 zum Weltmeister kürte, aber das Spiel hielten lange andere offen, Männer wie Schweinsteiger, der Getackerte, und Teamplayer wie Philipp Lahm oder Toni Kroos. Letzterer steht unter dem monumental lakonischen Titel Kroos nun ebenfalls im Mittelpunkt einer Homestory.
Der Film ist außergewöhnlich offen. Der Eindruck drängt sich, dass der Filmemacher Zugang zu jeder Quelle bekam, die er anzapfen wollte. Nicht nur gibt der Porträtierte erschöpfend Auskunft über sich, auch der Bruder, selbst Bundesligaspieler, und die Eltern tragen ihre Sichtweisen bei. Wirklich selten ist, dass auch die Ehefrau sicht- und hörbar wird, im Eigenheim nahe Madrid, am Swimmingpool. Dennoch kann man diese Bilder gegen PR-Strich lesen – selbst wenn der Eindruck entsteht, dass der Fussballer als Produzent an dem Ganzen beteiligt gewesen sein könnte.
Natürlich sagt auch die versammelte Prominenten-Riege von Löw über Hoeneß bis Zidane nur das Beste über den Fußballer Kroos, genauso wie Spielerberater und PR-Mitarbeiter und auch ein Intellektueller wie Paul Ingendaay, Spanien-Korrespondent der FAZ. Wesentlicher für die Wirkung ist, dass man Toni Kroos eine Eigenschaft ziemlich schnell abkauft, die für Fußballer seines Ranges sicher äußerst selten ist: das Wissen um den Wert von Bescheidenheit und Verzicht. Damit ist nicht der Verzicht auf Materielles gemeint, Kroos weiss das Leben durchaus zu genießen, und seine Stiftung kann er sich von seinem Gehalt sicher auch leisten. Nein, es geht um das absolute Wissen darüber, und zwar auf dem Platz und im wirklichen Leben, wann es nach vorne gehen muss und wann besser einmal mehr quer; das schließt die mediale Geste ein, also das, was man nach Außen zeigt: Durchaus auskunftsfreudig, gibt es von Kroos nie ein Wort nur um des Wortes willen, kein Show-off nur um zu zeigen, was man ist. Dazu kommt ein Ruhepuls knapp über dem des Murmeltiers im Winterschlaf. All das könnte man nun lange beschreiben. Man sollte es sehen. Und dürfte dann unschwer Parallelen zu unserer Kanzlerin feststellen. Beide stammen aus der gleichen flachen, protestantischen Ecke im Nordosten Deutschlands, schon das lässt tief blicken.
Tief blicken in tatsächlich so etwas wie einen „deutschen Geist“, der ja seit dem Idealismus fast überall auf der Welt für etwas Besonderes gehalten wird. Und solange er das nicht selber tut, beziehungsweise wir, die Deutschen als Nation, ist auch alles gut. Das Wissen um Bescheidenheit und Verzicht, auch wenn man sich etwas leisten kann, täte uns vielleicht auch nach der Krise gut.
Aber bevor es hier zu staatstragend-pädagogisch wird: Es geht doch nur um Fußball. Die fußballlosen Zeiten werden bald enden. Ball und Rubel sollen schließlich rollen. Wer noch mehr will, der kann mit Kroos einen Blick hinter die Kulissen werfen. Ums Gegenteil – eine völlig andere Qualität an Theater – geht es dann am 14. August. Im Ingelheimer Stadion am Blumengarten zeigen wir ein Porträt von Diego Armando Maradona (von Asif Kapadia, 2019). In einer hoffentlich warmen Sommernacht, vor ein paar hundert Zuschauern auf der Tribüne, in Kooperation mit der Spvvg Ingelheim steht der argentinische Jahrhundertspieler im Zentrum, der auf den Platz keinen Gegner zu fürchten hatte. Außerhalb hatte er oft die Medien und irgendwann die Mafia gegen sich: Die beste Besetzung im falschen Film. Das kann man von Kroos garantiert nicht sagen.