Re-enactment, das Nachstellen von Ereignisse wie etwa einer historischen Schlacht, ist zu einem Freizeitvergnügen geworden, an dem in normalen Zeiten Tausende teilnehmen. Auch das Fernsehen pflegt Re-enactment: mal detailgetreu, mal ausschmückfreudig wie alte Hollywoodfilme. Wonach bemisst sich der Grad an historischer Treue, den wir nun als Publikum zu akzeptieren, sowie an Glauben, den wir zu investieren bereit sind? Wohl eher nicht am Detail, selbst wenn größter Wert auf historische Treue gelegt wird. Authentische Wirkung eines Films scheint ein durchaus subjektiv bemessener Faktor zu sein.
Es geht wohl zuerst um Wahrheiten, die man als Publikum glauben will, weil sie ins aktuelle und, noch mehr, in das eigene Weltbild passen. Vergangenheit sieht man gerne so, wie sie von jetzt aus und auf Dauer plausibel wird. In einem großen Projekt habe ich diese menschlichen Mechanismen an einem einzigen Film zu erklären versucht, einem Hauptwerk des italienischen Realismus, Paisà von Roberto Rossellini (Italien 1946). Italien war sich nach dem Zweiten Weltkrieg unklar darüber, ob es nach der gescheiterten Achse mit Hitlerdeutschlands am Ende verloren hatte oder durch die Resistenza doch zu den Siegern zählte, denn vielerorts hatten Einzelne zur Befreiung von den nazifascisti beigetragen. Rossellini beschrieb diesen Zwiespalt in sechs Episoden immer wieder am gleichen Moment, einer ersten Begegnung von Italienern und Amerikanern. Die Befreiung dauerte 18 Monate, so sich jener „endlose Moment“ an sechs Orten wiederholte und so die raumzeitlich geordnete Landkarte eines geeinten Landes abbildete. Gekleidet in die Form einer monumentalen Wochenschau, wechseln die einzelnen Geschichte stets rasch vom Allgemeinen ins Private. Paisà ist eine Filmreise von der Nacht in den Tag, von der Unmöglichkeit jeglicher Kommunikation zu großer Klarheit. Und doch landete Rossellini, der so ziemlich alles für den getreuen Abdruck der Realität getan hatte, in seinem Bild vom einigen Vaterland – beim Mythos.
Die Gefahr des Mythos droht am Ende, vielleicht nach unserer Zeit, auch einem Fernsehfilm, der in diesem Jahr im Wettbewerb um den Deutschen Fernsehpreis dabei ist, das Drama Die Getriebenen (RBB/NDR) von Stephan Wagner. Es behandelt im Kern jene zwei Monate des Sommers 2015, in denen Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Der Titel meint in zweiter Bedeutung noch einmal anders Getriebene, Politiker nämlich, die federführend an der Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, beteiligt waren. Im Mittelpunkt stehen Angela Merkel und ihr engster Stab, weiter Sigmar Gabriel als SPD-Koalitionär, Horst Seehofer als Chef Bayerns, Jean-Claude Juncker, Alexis Tsipras, Viktor Orbán und viele weitere Entscheider.
In einem theoretischen Text zum Thema „Was ist heute noch ein Bild?“ habe ich vom nicht notwendigen Kriterium Ähnlichkeit für Bilder gesprochen. Das beweist allein schon die abstrakte Kunst. Hinsichtlich der Wirkung von Medien, besonders im Kino, ist Ähnlichkeit nützlich, aber nicht hinreichend. Dafür stehen die einzelnen Typen aus Die Getriebenen in großer Variationsbreite.
Imogen Kogge sieht nicht aus wie Angela Merkel, vor allem spricht sie nicht wie sie – und doch wird sie im Verlauf des Films immer mehr zur Kanzlerin. Tristan Seith als Peter Altmaier und Timo Dierkes als Sigmar Gabriel hingegen sind ad hoc perfekte Abbilder; leider verfällt der Film bei ihnen Klischees wie dem vom ewig essenden Kanzleramtschef und dem machthungrigen Vizekanzler. Weder glaubwürdig noch ähnlich ist Walter Sittler als alerter Darsteller des staatsmännisch-rechteckigen Frank-Walter Steinmeier; und ähnlich dürftig Rüdiger Vogler als Schäuble. Wie es anders geht, wie äußere Ungleichheit sich in ein stimmiges inneres Bild, ein Bild der Vorstellung wandeln lässt, beweist Josef Bierbichler als Seehofer. Leicht gebückt, dauerverärgert, körperschwer, in Zivil im Ferienhaus im Altmühltal – eine grandiose Vor-Stellung für uns, die wir daran auch verstehen, dass große Politik nie nur strippenziehend aus dem Hintergrund gemacht werden kann.
Sondern im äußersten Einsatz, Tag und Nacht, mehr oder weniger gehetzt von Termin zu Termin. So wird der Film zur Apotheose Merkels, die heute, im Oktober 2020, im letzten Jahr ihrer Kanzlerschaft steht. Der Film ist daher mehr als die Dokumentation der Ereignisse des Sommers 2015, auch kein Dokudrama, wie es dauernd im Fernsehen erscheint. Er wird erst im rhetorischen Modus des Aorist verständlich, im Blick zurück auf einen Zeitpunkt, von dem aus die nachfolgende Entwicklung bereits bekannt ist und in unsere gegenwärtige Bewertung einfließt. Das macht der Blick auf den damals kalkulierenden Gabriel deutlich, der heute aus der Politik verschwunden ist, ähnlich wie andere unscharf gelassene SPD-Gesichter & Namen, die man fast schon wieder vergessen hat.
Die Kanzlerin Angela Merkel so zu verfilmen, sie am Ende so gut zu finden, hätte sich manch kritischer Geist vor einiger Zeit noch nicht vorstellen wollen. In Die Getriebenen sehen wir keine von Macht und Machterhaltung Getriebene, sondern eine bedächtige, wohl abwägende Entscheiderin ohne die geringste Machtverliebtheit oder Eitelkeit. Als die Uni Bern die Möglichkeit abfragt, Merkel zur Ehrendoktorin zu machen, winkt sie genervt ab, für derartiges sei nun gerade gar keine Zeit.
Mit dieser Haltung weicht sie von allen anderen PolitikerInnen ab, denen der Film zum Teil allerdings auch gar nicht nahe zu kommen versucht. Die entscheidende Abweichung von dem Sachbuch, das dem Film zugrunde liegt, ist nicht das Umgehen mit der Wahrheit, sondern in der Differenz der beiden Medien begründet. Beim Buch vertrauen wir auf die Fakten, die im Fall der Flüchtlingskrise leicht überprüfbar sind. Im Fall des Films vertrauen wir, was die Wirkung angeht, vor allem unserer ästhetischen Intuition. In dieser Hinsicht bemühe ich gern die Funktion des Reißverschlusses: Greift ein Häkchen ins nächste, erleben wir intensiv, der Film flutscht und wir fühlen uns mitgenommen. Passen die Häkchen nicht ineinander, steigen wir emotional aus dem Geschehen aus.
Als Mitglied der Jury des Deutschen Film und Fernsehpreises 2020, dem Wettbewerb, der von vielen Sendern beliefert wird und als wichtigster Fernsehpreis des Landes gilt, durfte ich Die Getriebenen als einen von zwölf nominierten Filmen sichten. Der Regisseur wurde dazu von der Jury in einer Zuschaltung live befragt. Das Interview, alle Filme sowie die gesamte Jurydiskussion zu den Filmen sind ab dem 27. November in der Mediathek von 3sat zu sehen.