Der frühe Alfred Hitchcock wurde zum Meister des Kinos, als er vor Augen zu führen begann, dass man mit ihm in nichts als eine Puppenstube sieht. Die Metapher signalisiert zuerst eine klare raumzeitliche Ordnung. Als Meister ließ Hitchcock die Puppen dann tanzen in sehr definierten Räumen, an einem Fenster zum Hof, in einem verlassenen Hotel, einer Meeresbucht; auch die Zeit wird bei ihm durch klare Setzungen wortwörtlich einsehbar. Das Experiment Rope (1948) nimmt die Einheit von Zeit und Raum ganz ernst.
Von der einschätzbaren Ordnung des Sehfelds aus gibt es dann Verschiebungen, in der Regel durch einen Kriminalfall. Bei Hitchcock passiert aber noch anderes und wird vor allem anders reagiert, als man es im echten Leben erwarten würde. Im Gegensatz zum Hollywood-Mainstream, in dem Menschen durch Widrigkeiten zu Helden reifen, werden Hitchcocks Figuren oft kleiner, menschlicher, behalten ihre Schwächen. So ‘wächst’ wieder das Publikum, bestärkt durch den vorgegebenen Sehraum und die ‘Beherrschung’ der Zeit.
Sehr klar lässt sich diese formale Orientierung des Publikums schon in Lifeboat (1943) erkennen, einem wenig bekannten Film aus der Kriegszeit. Der Engländer Hitchcock macht amerikanische Propaganda im Auftrag der 20th Century Fox. Einziger Handlungsort ist ein Rettungsboot auf dem Atlantik. Auch die Präsentation der ersten Figur verblüfft: Da sitzt Tallulah Bankhead, eine eher kantige, aber starke und elegante Dame, perfekt gestylt im Boot, und raucht. Es folgen, einer nach dem anderen, immer mehr Überlebende eines versenkten Ocean Liners, bis sich ein Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft versammelt hat. Am Ende kommt noch ein Monster an Bord, der Kapitän des deutschen U-Bootes, von dem das Unheil ausging.
Walter Slezak spielt diesen Nazi-Offizier mit Wiener Charme und eiskalter Berechnung, was von den unterschiedlichen Demokraten lange nicht durchschaut wird. Von Walters Vater Leo Slezak habe ich schon als Kind Memoiren gelesen, die erste in einer langen Folge Exillektüre. Später interessierten Menschen mehr, die aus Europa ganz weggehen mussten, um dann irgendwie am amerikanischen Filmimperium mitzubauen, zuletzt das Gespräch Billy Wilders mit dem Regisseur Cameron Crowe. Der Film, die Kunst des 20. Jahrhunderts wäre ärmer ohne jene Unbehausten; das gilt auch für die USA als Nation. Zuhause hätten sie vielleicht einfach weiter Unterhaltung gemacht. In der Fremde brachten sie einen existenziellen Blick ein und jenes Quantum Dialektik, ohne das Kunst nie wirklich funktioniert.
Wir müssen ihnen dankbar sein für die Erfahrung, die sie der Welt von 1933 an mitgeteilt haben in so vielen Filmen des klassischen Hollywood: die Weltsicht des Unbehausten, Heimatlosen, der nur noch mickrige “Würzelchen” schlägt in der neuen Heimat, wie der exilierte Theoretiker Siegfried Kracauer sein zweites Dasein einmal umschrieb. Oder mit Billy Wilder, für den Cameron Crowe das folgende Fazit zog: “Sie haben diese Filme geschrieben, um all diese unterschiedlichen Leben zu leben, um Dinge zu erfahren, die Sie im wirklichen Leben nicht erfahren konnten.” Viel besser lässt sich der Antrieb, Filme zu machen – ebenso wie der, Filme zu sehen – nicht beschreiben.
Weil wir im Kino, und nur im Kino, jede gesehene Geschichte aktualisieren und auf uns projizieren, ist Lifeboat mehr als eine Parabel des Zusammenhalts Amerikas in einer Welt, die akut in Flammen stand. Das Motiv des Rettungsboots auf hoher See ist heute so aktuell wie damals. Darüber hinaus entscheiden die Insassen wie auf einem “Floß der Medusa”, bei Hitchcock wie bei Géricault, über Leben und Tod von Indidividuen. Ein existenzieller und explizit politischer Film, zu seiner Zeit selten in Hollywood, differenzierter als Sergeant York (1941), weniger raffiniert verklausuliert als Casablanca (1942), nicht ganz so klug wie Mrs. Miniver (1942). Ein Schulfilm, mit dem man Gymnasiasten zu einer Meinung bringen könnte, wie High Noon (1950) oder 12 Angry Men (1957). Ein Lehrstück in Sachen moralisches Kino.