FILMTIPP #35: STERNE ÜBER UNS VON CHRISTINA EBELT (ZDF/ARTE 2020).

Bildquelle: Brigitte

Gibt es auf der Internetsetseite des FernsehfilmFestivals Baden-Baden zu sehen.

Baden-Baden im Herbst 2020. Eine Geisterstadt. Nikolas Gerhaert van Ley­dens Kruzifix, für das sich der Besuch der Kurstadt fast alleine lohnt, ist we­gen Restaurierung der Kirche nicht zugänglich. Ein spät­mit­tel­al­ter­lich-real­istischer, gefolterter Körper und doch über Jahrhun­derte ein Ob­jekt der An­be­tung, der Versenkung. So funktioniert auch das so schmerzlich ver­misste Ki­no, zumindest in manchen Genres: Grauen, und Hoffnung auf Er­lösung.

Solche Gefühle produziert das Fernsehen ziemlich selten (von einer Ausnah­me wird gleich die Rede sein). Gewiss, andauernd versucht man hier, das Pub­li­kum bei den Gefühlen zu packen. Aber die Mittel dafür sind oft ungenü­gend; und es steht eben auch nicht jener einzigartige, dunkle Raum mit den riesigen Bildern und mächtigen Tönen zur Verfügung. Seit den Anfängen war Fernse­hen ein Medium, das auf gesellschaftlichen Kon­sens baute. Man muss also auf Ausnahmen hoffen. Dafür bin ich neulich nach Baden-Baden ge­reist. In Corona-Herbst 2020 standen die Kulissen der Kurstadt traurig da und sa­hen doch schön aus. Der Speisesaal im feudalen Kurhaus war fast immer leer, wenn die Jury des Deutschen Fernsehpreises hier gemeinsam zu Abend aß.

Im November liefen zwölf Wettbewerbsfilme auf 3sat, danach waren sie in der Me­dia­thek abzurufen, zusammen mit den Diskussionen der Jury. Im Moment steht noch alles auf der Website des Festivals. Hier die Laudatio auf Sterne über uns, den Gewinner des Deutschen Fern­seh­prei­ses 2020.

Melli ist eine Frau, die um jeden Preis die Kontrolle behalten will. Daher funk­tioniert kaum eines der Hilfsangebote, die sie selbst aktiv sucht und die doch selten bei ihr ankommen. Melli hat ihre Woh­nung ver­loren. Sie schläft mit dem achtjährigen Ben im Wald, nahe der S-Bahn. Am Mor­gen ver­lässt sie den Wald wie aus dem Ei gepellt, mit Rollkoffer, im blauem Luft­hansa­rock und knit­terfreier weißer Bluse. Das ist Mellis Uniform, ihr inszena­to­risch über­höhter Pan­zer. Im Job, als Jahr­gangs­beste des Stewardes­senkurses, will Melli unbedingt wie eine Eins funktionieren.

Rückblende 1947. Und über uns der Himmel. Ein Heimkehrerdrama nach dem Krieg. Wohnungs­not. Entfremdung von Männern und Frauen. Zu­sam­menrücken. Etwas beginnt. Bestandsaufnahme 2020. Sterne über uns. Ein Drama um das Selbstbestimmungs­recht einer Frau. Wohnungs­not. Weder Freunde noch der Staat bieten entscheidende Hilfen. Etwas stockt.

Melli, grandios gespielt von Franziska Hartmann, darf man durchaus einen Tunnel­blick attestieren. Mal ist sie zu stolz, mal zu scheu, mal sieht sie die Chance nicht, die sich bietet, dann geht das Mama-Gen mit ihr durch. Länger als nötig will sie den schulpflichtigen Ben nirgends parken. Gibt es be­grün­de­te Ab­sagen, wird Melli sauer; kommt ein Strohhalm vorbei, ist er ihr zu dünn. Gäbe es die pragma­tische Lö­sung, wäre ja auch der Film zu Ende. Als es dann zur Pflegefamilie auf Zeit kommt, büxt Ben schnell wieder aus. Am Ende stehen Melli und ihr Sohn wieder am Anfang.

Doch wir haben etwas verstanden. Es gibt weder eindeutige Schuld an noch einfache Lösungen für Mel­lis Probleme. Daran hat der Film so wenig Inter­esse wie an psychologischen Erklärungen. Wir sind nie Melli. Wir spiegeln uns in den Instanzen, die mit dieser unglücklich starken Frau umge­hen.

Christina Ebelt, Regisseurin und Co-Autorin (mit Franziska Krentzien), er­zählt dieses Statio­nen­drama äußerst ökonomisch und genau. Ihr bevorzugtes Stilmittel ist die Ellipse, die alles weg­lässt, was nicht unbedingt erklärt wer­den muss. Das gilt für die Story, die weniger an Ursachen als an Hand­lungs­optionen interessiert ist (Was ist eigentlich mit Bens Vater? Müssen wir nicht, wissen. Er bedeutet keine Chance mehr), und ebenso für den filmischen Blick. Gespräche wer­den kaum je in Schuss und Ge­gen­schuss aufgelöst; die Ka­mera interessiert sich stattdessen für die mimi­sche Reaktion, die Gespro­chenes beim Anderen auslöst. Dennoch ist kein Krisenkunstkino entstan­den, son­dern ein flüssiger Fernsehfilm über eine im Deutschland des Jahres 2020 offenbar mögliche Situation. Und das, lassen die strahlenden Sterne dieses Films erkennen, ist noch lange nicht das Grauen, aber schon ein Drama.

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