Gibt es auf der Internetsetseite des FernsehfilmFestivals Baden-Baden zu sehen.
Baden-Baden im Herbst 2020. Eine Geisterstadt. Nikolas Gerhaert van Leydens Kruzifix, für das sich der Besuch der Kurstadt fast alleine lohnt, ist wegen Restaurierung der Kirche nicht zugänglich. Ein spätmittelalterlich-realistischer, gefolterter Körper und doch über Jahrhunderte ein Objekt der Anbetung, der Versenkung. So funktioniert auch das so schmerzlich vermisste Kino, zumindest in manchen Genres: Grauen, und Hoffnung auf Erlösung.
Solche Gefühle produziert das Fernsehen ziemlich selten (von einer Ausnahme wird gleich die Rede sein). Gewiss, andauernd versucht man hier, das Publikum bei den Gefühlen zu packen. Aber die Mittel dafür sind oft ungenügend; und es steht eben auch nicht jener einzigartige, dunkle Raum mit den riesigen Bildern und mächtigen Tönen zur Verfügung. Seit den Anfängen war Fernsehen ein Medium, das auf gesellschaftlichen Konsens baute. Man muss also auf Ausnahmen hoffen. Dafür bin ich neulich nach Baden-Baden gereist. In Corona-Herbst 2020 standen die Kulissen der Kurstadt traurig da und sahen doch schön aus. Der Speisesaal im feudalen Kurhaus war fast immer leer, wenn die Jury des Deutschen Fernsehpreises hier gemeinsam zu Abend aß.
Im November liefen zwölf Wettbewerbsfilme auf 3sat, danach waren sie in der Mediathek abzurufen, zusammen mit den Diskussionen der Jury. Im Moment steht noch alles auf der Website des Festivals. Hier die Laudatio auf Sterne über uns, den Gewinner des Deutschen Fernsehpreises 2020.
Melli ist eine Frau, die um jeden Preis die Kontrolle behalten will. Daher funktioniert kaum eines der Hilfsangebote, die sie selbst aktiv sucht und die doch selten bei ihr ankommen. Melli hat ihre Wohnung verloren. Sie schläft mit dem achtjährigen Ben im Wald, nahe der S-Bahn. Am Morgen verlässt sie den Wald wie aus dem Ei gepellt, mit Rollkoffer, im blauem Lufthansarock und knitterfreier weißer Bluse. Das ist Mellis Uniform, ihr inszenatorisch überhöhter Panzer. Im Job, als Jahrgangsbeste des Stewardessenkurses, will Melli unbedingt wie eine Eins funktionieren.
Rückblende 1947. Und über uns der Himmel. Ein Heimkehrerdrama nach dem Krieg. Wohnungsnot. Entfremdung von Männern und Frauen. Zusammenrücken. Etwas beginnt. Bestandsaufnahme 2020. Sterne über uns. Ein Drama um das Selbstbestimmungsrecht einer Frau. Wohnungsnot. Weder Freunde noch der Staat bieten entscheidende Hilfen. Etwas stockt.
Melli, grandios gespielt von Franziska Hartmann, darf man durchaus einen Tunnelblick attestieren. Mal ist sie zu stolz, mal zu scheu, mal sieht sie die Chance nicht, die sich bietet, dann geht das Mama-Gen mit ihr durch. Länger als nötig will sie den schulpflichtigen Ben nirgends parken. Gibt es begründete Absagen, wird Melli sauer; kommt ein Strohhalm vorbei, ist er ihr zu dünn. Gäbe es die pragmatische Lösung, wäre ja auch der Film zu Ende. Als es dann zur Pflegefamilie auf Zeit kommt, büxt Ben schnell wieder aus. Am Ende stehen Melli und ihr Sohn wieder am Anfang.
Doch wir haben etwas verstanden. Es gibt weder eindeutige Schuld an noch einfache Lösungen für Mellis Probleme. Daran hat der Film so wenig Interesse wie an psychologischen Erklärungen. Wir sind nie Melli. Wir spiegeln uns in den Instanzen, die mit dieser unglücklich starken Frau umgehen.
Christina Ebelt, Regisseurin und Co-Autorin (mit Franziska Krentzien), erzählt dieses Stationendrama äußerst ökonomisch und genau. Ihr bevorzugtes Stilmittel ist die Ellipse, die alles weglässt, was nicht unbedingt erklärt werden muss. Das gilt für die Story, die weniger an Ursachen als an Handlungsoptionen interessiert ist (Was ist eigentlich mit Bens Vater? Müssen wir nicht, wissen. Er bedeutet keine Chance mehr), und ebenso für den filmischen Blick. Gespräche werden kaum je in Schuss und Gegenschuss aufgelöst; die Kamera interessiert sich stattdessen für die mimische Reaktion, die Gesprochenes beim Anderen auslöst. Dennoch ist kein Krisenkunstkino entstanden, sondern ein flüssiger Fernsehfilm über eine im Deutschland des Jahres 2020 offenbar mögliche Situation. Und das, lassen die strahlenden Sterne dieses Films erkennen, ist noch lange nicht das Grauen, aber schon ein Drama.