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In normalen Zeiten und normalen Jahren ist der Dezember angefüllt mit viel Arbeit, Abschlüssen, Festvorbereitungen und Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt. Im Coronajahr summiert sich das in ein ungebremstes, einsames Agieren am häuslichen Computer. Schaut man hinaus, ist die Welt menschenleer und grau. Da hilft es vielleicht, auf das absolute Gegenteil aufmerksam zu machen, einen Film voll mit prallem Leben, Sommer, jungen Leuten, die freundschaftlich miteinander umgehen und höchst skurrile Dialoge führen.
Der Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf hat sich 2,4 Mio. mal verkauft. Vielerorts war das Buch Oberstufenlektüre. Bei einem solchen Erfolg bleibt eine Filmversion unausweichlich. Fatih Akin hat es geschafft, sein Werk auf Augenhöhe mit der Vorlage zu gestalten. Das klappt bekanntlich nie durch reines Nacherzählen. Die Story, die Typen, die Dialoge, die Landschaft sind nichts als das Skelett, das der Film mit eigenen Ideen anfüllt – filmischen Ideen. Hier lugt das Wortskelett nicht oft unter den Bildern hervor. Mein Lieblingsdialog zwischen Maik und Tschick führt im Stakkato von den Himmelsrichtungen zum Kreiselkompass, vom Alkokohol zum Roman Der Seewolf und zur Band Steppenwolf; bei denen ging es auch um Drogen, schließt Tschick. Gekrönt wird das Wort-Dada durch einmal mehr “Pour Adeline”, geklimpert von Richard Clayderman im Kassettendeck des geklauten Lada.
Tschick (Anand Batbileg) ist der Magnet des Films, ein “jüdischer Zigeuner”, wie er von sich sagt. Daher kommt er als Nachwuchsirokese, und der will zu seinem Opa in die Walachei. Sein größtes Geheimnis wird er, wie immer lächelnd, am Ende seinem neuen Freund Maik beichten. Maik (Tristan Göbel) hat Probleme mit Themen, über die Tschick fröhlich hinweggeht: in der Schule, mit den Eltern, im Liebesleben, also vieles, was Heranwachsende so umtreibt. Aus Maiks Perspektive ist die Geschichte dieses Roadtrips erzählt; dem introvertierten, reflektierten Jungen neigt sich so die Empathie des Publikums zu. Über Tschick erfährt man weniger. Er handelt situativ und erhebt sich fast immer über die bürgerliche Norm(alität). Ein Hauch von Anarchie bleibt bei stets ihm, dem gut gelaunten Huck Finn des Films.
Wenn man sich die allerpopulärsten Filme ansieht, in Ranglisten wie etwa der IMDB, trifft man immer wieder auf dieses Muster: In einer visuell attraktiven Umgebung bildet sich eine Gegenwelt zur Normalität, oft im halblegalen Bereich. Einzelnen Mitgliedern wird im Lauf der Erzählung gestattet, in die große Gemeinschaft zurückzukehren, geläutert natürlich und nun auch mit den notwendigen Skills ausgestattet. Man nennt das die filmische Heldenreise. Der Mythenforscher Joseph Campbell hat sie in seinem Buchklassiker von 1949 im Rückgriff auf antike Erzählungen schulbildend beschrieben.
Helden sind die zwei Jungs und das Mädchen Isa, das die beiden treffen, nicht unbedingt. Ihre gemeinsame Wegstrecke als Zuschauer zu begleiten ist aber mehr als Unterhaltung mit einem Schuss Tragik. Notwendig war, den Roman zu kürzen; der Vergleich führt nicht weiter, weil der Film seine eigenen Qualitäten hat. Drei dieser Qualitäten seien genannt. Das Farbschema ist in Richtung Grün und Gelb, Blau und Türkis entwickelt, was den Bildern eine erhabene, tröstliche Distanz gibt. Akins Lieblingseinstellung ist der senkrechte Top Shot, der zeigt, dass es da noch ein anderes Auge gibt als das freundlich beobachtende. Und natürlich lebt der Film von seinem Score, wie immer bei Akin eine eigene Spur, die dem Erzählten neue Horizonte zufügt und zu einer Erklärung des Sichtbaren beiträgt, die einen positiv mitnimmt.
F!F hat Tschick mit Partnern im geräumigen und gepflasterten Hof eines Weinguts gezeigt, als Freiluft-Event und mit Vorband. 250 Menschen kamen und waren sehr angetan. Noch ein Akin-Film hat unser Publikum begeistert, Soul Kitchen (2009), diesmal in der Kelterhalle eines Weinguts. Im Juli (2000) oder Solino (2003) des Hamburger Regisseurs könnten wir noch zeigen – auch das sind Feelgood-Movies mit Tiefgang über Menschen, die sich in ihrem Leben von der Stelle bewegen. Was wir bräuchten, wäre “nur” die warme Jahreszeit, erneuter Optimismus und der jeweils besondere Ort, an dem sich unsere Gäste zu einem besonderen Film einfinden dürften.