FILMTIPP #38: LA GRANDE ILLUSION/ DIE GROßE ILLUSION VON JEAN RENOIR (F 1937).

Auf DVD und (gegen Aufpreis) zu streamen.

Man muss die Figuren dieses Films einfach mö­gen. Im Zentrum steht, obwohl er bei weitem nicht die meiste onscreen time hat, ein exzentrischer deutscher Offizier des Ersten Weltkriegs, gespielt von Erich von Stroh­heim. “Von”, wie er in Hollywood schlicht genannt wurde, lehrt uns zu Be­ginn das schöne Wort “Gabelfrühstück”. Und dann ins­be­son­dere, wie man allzeit Wür­de be­wahrt, wenn man, wie dieser Major von Rauf­fenstein, das Schlimm­ste und auch das Schönste schon hinter sich hat. “Über­all Verbrennungen, an zwei Stellen die Wirbelsäule frakturiert, eine Sil­ber­plat­te im Kopf, und die linke Kniescheibe auch aus Silber. Ja, ich bin durch den Krieg zu bemer­kens­werten Reich­tü­mern gekommen.”

Reich ist tatsächlich der jüdische Mitgefangene Rosenthal, der seine Freunde im Lager der Deutschen, das von Rauffenstein befehligt, mit kost­baren Pa­ke­ten verwöhnt, die seine Familie aus Paris schickt. Er ist Teil einer Gruppe von Franzosen, die uns mehrfach begegnen, allen voran der mutige Ma­ré­chal (Jean Gabin), ein aristokratischer Offizier (Pierre Fresnay) und der Ko­mi­ker Ca­rette. Dann sind da etwas einfältige Russen, die das Schick­sal als Kriegs­gefangene der Deutschen teilen; es gibt Englän­der, de­nen es genauso ergeht, die aber ihren Humor nie verlieren; schließlich ist da noch ein deutscher Auf­se­her, den die Franzosen als ihren “Arthür” fast schon ins Herz schließen.

Renoir beschreibt die Welt nicht vertikal gegliedert, nach Nationali­täten oder Religionen, sondern vertikal, in soziologischen Schichten. Durch den Krieg, so die These dieses Films, werden nun aber alle gleich, Wächter wie Be­wach­te, Sieger wie Verlierer. Nur das Kriegsglück ändert sich, wie die Schlacht um Douau­mont/Verdun zeigt: Maréchal lässt zu dessen Rückero­be­rung die Mar­seil­laise spielen und büßt die Tat mit langer, verschärfter Ein­zel­haft. Der Re­gisseur Curtiz hat die Sequenz später für Casablanca geklaut.

Und eine Liebe gibt es auch, gegen Ende, zwischen dem ausgebrochenen Maréchal und einer deutschen Bäuerin: In einem zerschossenen Ho­fe/kämm­te sie ihm sein Haar, heißt es bei Brecht. Hier wird der Film mit einem Mal süß­lich. Die Liebe muss dann wieder enden, wegen des anhal­ten­den Krie­ges. Maré­chal und Rosenthal entkommen schließlich über die Grenze zur Schweiz. Was stehen bleibt, neben den Grenzpfosten, ist die titelgebende gro­ße Illu­sion, die Men­schheit mit der Hilfe von Waf­fen befrieden zu können.

Der Film wurde am Festival in Venedig 1937 prämiert. Mussolini ließ ihn als “zu pazifistisch” verbieten. Renoir zog die Konsequenzen und inszenierte mit La Règle du Jeu (1939) einen Tanz auf dem Vulkan, in dem erneut ein hete­ro­genes Ensemble aus Aristokraten, Abenteurern, treuen Bediensteten und kleinen Gau­nern die große Welt nachstellt. Liebesgeschichten, die fehl lau­fen – ins­ze­natorisch eine Huldigung an den Vater des Regisseurs, den Im­pres­sio­n­is­ten Pierre-Auguste Renoir, bei dem die Konturen des Wahr­nehm­baren, oft des Sujets schon verschwammen. Im Film des Sohns wirft die Kamera ganz ungeleckte Blicke auf die gesellschaftliche Bühne wie hin­ter die offiziel­len Kulissen – mit einer Wahrhaftigkeit, wie sie nur der Film­kunst möglich ist.

Wenn La Règle du Jeu ein ganz zeitgenössischer, moderner Film ist, bleibt La Grande Illusion sowohl der zugeneigte Blick zurück, auf die un­ter­gehen­de Ständegesellschaft, den Talmiglanz der Uniformen, die Solidarität der klei­nen, in der Not so großen Leute, wie auf eine zukunftsgewandte Lö­sung, die nur vom hu­manen En­ga­ge­ment des Einzel­nen für die Gemein­schaft leben würde. Ein Film mit einer Weih­nachts­botschaft, wenn man so will.

Jean Renoir emigrierte. In den USA konnte er seine französischen Erfol­ge nicht fortsetzen. In Frankreich erkor ihn unterdessen eine jüngere Generation zu ih­rem patron. Es ist interessant, La Grande Illusion nicht nur als Werk ei­nes gro­ßen Unabhängigen, sondern, in seiner Drei-Akte-Struk­tur, auch als Ergänzung des klassischen amerikanischen Studio­produkts zu be­leuch­ten. Der Ty­pus ‘Jean Gabin als mutiger Freiheitskämpfer’ prägte Hol­ly­woodfilme für einige Jahre. Eine faszinierende Wiederkehr feierte auch Erich von Stro­heim in der Rolle des Geistesaristokraten, der einer neuen Zeit mit über­kommenen Wer­ten entgegen tritt, in Billy Wilders Sunset Boulevard (1950).

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