FILMTIPP #41: VICTORIA VON SEBASTIAN SCHIPPER (D 2015).

Victoria Titelbild

Auf Netflix.

Es war ein heißer Julitag. Immerhin bot die Tiefgarage unter dem Neuen Zen­t­rum Ingel­heims Aussicht auf einen kühlen Filmabend. Die Garage war frei­lich noch im Entstehen. Ein Experiment, auf einer unterir­dischen Bau­stel­le mit Wassergrä­ben, die für viel Geld durch Geländer abgesichert wer­den muss­ten, einen Abend Kino zu machen? Kein größeres Experiment als das der Stadt Ingelheim, sich in ihrer geographischen Mitte ein nagelneu­es Zent­rum zu bauen, und sicher auch wenig riskant im Vergleich zur Idee Se­ba­stian Schip­pers, einen Film in einer einzigen Einstellung zu planen und zu drehen.

Das hat es so noch nie gegeben. Sicher, es gibt Vergleichsbeispiele, gerade­zu als Mode zuletzt. Schon 2002 fuhr Alexander Sokurow mit einer die Histo­rie feiern­den Kamera in Russian Ark durch die Ere­mi­tage von St. Pe­ters­burg. Alejandro Iñárritu scheuchte seinen Birdman (2014) in (ka­schierten) Lang-Sequenzen durch die Ruinen eines frü­heren Su­per­hel­den-Daseins. Jüngst be­schrieb Sam Mendes in 1917 (2020) die wagemutige Mis­sion zweier, dann eines englischen Soldaten hinter den deut­schen Linien und suggerierte dabei erneut die Einheit von Raum und Zeit.

All dies waren forcierte Versuche, filmische Authentizität ohne Schnitte her­zustellen. Von Schippers Films unterscheiden sie sich nicht so sehr durch die Behauptung, tat­sächlich in einem Stück aufgenommen worden zu sein, als vielmehr durch aus­ge­klügelte Choreographien und theater­haft ein­stu­dier­te Be­wegungen und Texte der Schauspieler. Victoria wirkt dage­gen wie ein über­langes Handy­mo­vie: rau, spontan, in Teilen improvisiert und geprägt vom langen Atem der Crew. Manchmal sieht man mit der Ka­mera buchstäb­lich – nichts. Während eines kur­zen Bank­über­falls bleibt sie auf dem Gesicht der Fluchtauto-Fah­re­rin, deren Nervosität einen ansteckt, weil man zu die­sem Zeit­punkt schon weit in den Film eingetaucht ist. Emotionale Reaktio­nen zeitigen mehr Wir­kung, wissen Regisseure, als deren bombastische Ursachen.

Wirkung erzielt auch die junge Spanierin Victoria (Laia Costa), die vor drei Monaten in Berlin ange­kommen ist und noch niemanden richtig kennt. Sie ver­steht kaum Deutsch, als sie gegen vier Uhr morgens vor einem Club vier Ber­liner Jungmänner trifft und sogleich Freundschaft schließt. Besonders Son­ne (Fre­derick Lau) hat es ihr angetan. Mit ihm beginnt eine kleine Lie­bes­ge­schichte, die als Drama endet. Ein anderer der Jungs, Boxer (Franz Ro­gows­ki) muss eine Knast-Erfahrung aufarbeiten und zieht die ande­ren mit in einen kri­mi­nel­len Abgrund. So wechselt der Film unangestrengt die Gen­res, bleibt aber stets nah an den Figuren. Für gute zwei Stunden, bis kurz nach Son­nen­auf­gang, ist man Teil der Gruppe – befördert durch sonst eher unan­ge­neh­me Tatsachen: a) man versteht nicht alles Gesagte; b) die Dia­loge sind oft banal; c) mit Victoria ist nur ein wenig Schul­eng­lisch möglich.

Die Wirkung kommt weniger vom Schauspiel als aus der zwischenmensch­li­chen­ Che­mie, die sich – wie im Leben – spontan einstellt. Festgelegt waren Wege – aus dem Club in einen Späti, von einem Hochhausdach in eine Tief­garage, von der Bank in ein Miets­haus und ein Hotel, dazwischen immer wie­der Berliner Pflaster rund um die Friedrich­straße – und die Leitplanken der Story. Das Gespro­chene hingegen wurde improvisiert. Die Dar­stel­ler konnten sich ohne großes Korsett auf ihre Rollen einlassen und durften sogar ins Char­genhafte fallen. Posing gehört eben zum Leben.

In der Filmgeschichte gibt es den wiederholten Versuch, durch lange Ein­stel­lungen, Plansequenzen genannt, den Eindruck von Authentizität zu ver­mit­teln. Wenn man genauer hinsah, schlug das oft um ins Forcierte, Gewoll­te, Ausgestellte. Der Filmtheoretiker Bazin hat die Wir­kung dieser Kamera­op­tion bei Orson Welles als Einheit des Schauspielers mit dem Dekor be­schrie­ben, das klassische Schnittverfahren hingegen als „Ein­schränkung und Ver­stüm­melung der Möglichkeiten des Bildes“. Wenn man bei Renoir und Hitch­cock, Antonioni oder auch in McQueens 12 Years a Slave genau hin­sieht, stehen derart “nachgehaltene Bilder” (David Bordwell) immer im Dienst der Er­zäh­lung. Sie prägen Atmosphären aus. Victoria ist demnach der rich­ti­ge Film über junge Leute und für junge Leute, weil er de­ren Le­bens­welt ab­bil­det und vor allem die Art, wie man in diesem Alter derzeit auf die Welt sieht.

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