Auf Netflix.
Es war ein heißer Julitag. Immerhin bot die Tiefgarage unter dem Neuen Zentrum Ingelheims Aussicht auf einen kühlen Filmabend. Die Garage war freilich noch im Entstehen. Ein Experiment, auf einer unterirdischen Baustelle mit Wassergräben, die für viel Geld durch Geländer abgesichert werden mussten, einen Abend Kino zu machen? Kein größeres Experiment als das der Stadt Ingelheim, sich in ihrer geographischen Mitte ein nagelneues Zentrum zu bauen, und sicher auch wenig riskant im Vergleich zur Idee Sebastian Schippers, einen Film in einer einzigen Einstellung zu planen und zu drehen.
Das hat es so noch nie gegeben. Sicher, es gibt Vergleichsbeispiele, geradezu als Mode zuletzt. Schon 2002 fuhr Alexander Sokurow mit einer die Historie feiernden Kamera in Russian Ark durch die Eremitage von St. Petersburg. Alejandro Iñárritu scheuchte seinen Birdman (2014) in (kaschierten) Lang-Sequenzen durch die Ruinen eines früheren Superhelden-Daseins. Jüngst beschrieb Sam Mendes in 1917 (2020) die wagemutige Mission zweier, dann eines englischen Soldaten hinter den deutschen Linien und suggerierte dabei erneut die Einheit von Raum und Zeit.
All dies waren forcierte Versuche, filmische Authentizität ohne Schnitte herzustellen. Von Schippers Films unterscheiden sie sich nicht so sehr durch die Behauptung, tatsächlich in einem Stück aufgenommen worden zu sein, als vielmehr durch ausgeklügelte Choreographien und theaterhaft einstudierte Bewegungen und Texte der Schauspieler. Victoria wirkt dagegen wie ein überlanges Handymovie: rau, spontan, in Teilen improvisiert und geprägt vom langen Atem der Crew. Manchmal sieht man mit der Kamera buchstäblich – nichts. Während eines kurzen Banküberfalls bleibt sie auf dem Gesicht der Fluchtauto-Fahrerin, deren Nervosität einen ansteckt, weil man zu diesem Zeitpunkt schon weit in den Film eingetaucht ist. Emotionale Reaktionen zeitigen mehr Wirkung, wissen Regisseure, als deren bombastische Ursachen.
Wirkung erzielt auch die junge Spanierin Victoria (Laia Costa), die vor drei Monaten in Berlin angekommen ist und noch niemanden richtig kennt. Sie versteht kaum Deutsch, als sie gegen vier Uhr morgens vor einem Club vier Berliner Jungmänner trifft und sogleich Freundschaft schließt. Besonders Sonne (Frederick Lau) hat es ihr angetan. Mit ihm beginnt eine kleine Liebesgeschichte, die als Drama endet. Ein anderer der Jungs, Boxer (Franz Rogowski) muss eine Knast-Erfahrung aufarbeiten und zieht die anderen mit in einen kriminellen Abgrund. So wechselt der Film unangestrengt die Genres, bleibt aber stets nah an den Figuren. Für gute zwei Stunden, bis kurz nach Sonnenaufgang, ist man Teil der Gruppe – befördert durch sonst eher unangenehme Tatsachen: a) man versteht nicht alles Gesagte; b) die Dialoge sind oft banal; c) mit Victoria ist nur ein wenig Schulenglisch möglich.
Die Wirkung kommt weniger vom Schauspiel als aus der zwischenmenschlichen Chemie, die sich – wie im Leben – spontan einstellt. Festgelegt waren Wege – aus dem Club in einen Späti, von einem Hochhausdach in eine Tiefgarage, von der Bank in ein Mietshaus und ein Hotel, dazwischen immer wieder Berliner Pflaster rund um die Friedrichstraße – und die Leitplanken der Story. Das Gesprochene hingegen wurde improvisiert. Die Darsteller konnten sich ohne großes Korsett auf ihre Rollen einlassen und durften sogar ins Chargenhafte fallen. Posing gehört eben zum Leben.
In der Filmgeschichte gibt es den wiederholten Versuch, durch lange Einstellungen, Plansequenzen genannt, den Eindruck von Authentizität zu vermitteln. Wenn man genauer hinsah, schlug das oft um ins Forcierte, Gewollte, Ausgestellte. Der Filmtheoretiker Bazin hat die Wirkung dieser Kameraoption bei Orson Welles als Einheit des Schauspielers mit dem Dekor beschrieben, das klassische Schnittverfahren hingegen als „Einschränkung und Verstümmelung der Möglichkeiten des Bildes“. Wenn man bei Renoir und Hitchcock, Antonioni oder auch in McQueens 12 Years a Slave genau hinsieht, stehen derart “nachgehaltene Bilder” (David Bordwell) immer im Dienst der Erzählung. Sie prägen Atmosphären aus. Victoria ist demnach der richtige Film über junge Leute und für junge Leute, weil er deren Lebenswelt abbildet und vor allem die Art, wie man in diesem Alter derzeit auf die Welt sieht.