Auf DVD und (gegen Aufpreis) zu streamen.
Dieser Film ist wahlweise krass, mutig, oder eine Provokation. Wir haben ihn im F!F-Vorstand zusammen angesehen, waren beeindruckt – und haben gemeinsam beschlossen, ihn unserem Ingelheimer Publikum nicht zu zeigen.
Ein Film, der zensiert werden muss? Das wiederum nicht, wie das Gutachten der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) ausweist, die Wild ab 16 Jahren freigab und ihm lediglich die vom Produzenten beantragte FSK 12 verweigerte. “Das Verwischen und Überschreiten der Grenzen zwischen Mensch und Tier, das Spiel mit weiblichen Fantasien der Lust in Verbindung mit dem Wolf, von Lust und Schmerz in einem realitätsnahen Setting überfordert die kognitive und emotionale Kompetenz von 12-jährigen. 16-jährige hingegen sind aufgrund ihres kognitiven und psychosozialen Enwicklungsstandes wie auch ihrer medialen Kenntnisse und Erfahrungen in der Lage, Inhalt und Anlage des Films zu identifizieren, mit den aus seiner Thematik und der Inszenierung erwachsenden Irritationen, der möglicherweise evozierten Abwehr und Abscheu so umzugehen, dass nachhaltig verstörende oder desorientierende Effekte nicht zu befürchten sind.” Soweit das Gutachen der FSK.
Worum geht es? Eine junge Frau, Ania, lebt isoliert in einer Hochhaussiedlung am Rand von Halle-Neustadt. In einem Park entdeckt sie einen echten Wolf. Sie fängt das Tier dank einer alten List und einigen asiatischen Helferinnen ein und bringt es betäubt in ihre Wohnung. Von da an lebt sie mit dem Tier zusammen, wie einst Joseph Beuys mit seinem Coyoten. Nur ist das keine Konzeptkunst: Der Wolf erfüllt reale Sehnsüchte Anias, wie das offenbar kein Mensch bzw. Mann vermag. Ihr Verhalten im Büro und ihrem Chef gegenüber, der ein seltsames Interesse an der jungen Frau hat, wird immer bizzarer. Am Ende bricht Ania mitsamt Wolf in eine menschenleere Einöde auf.
Allein dass die Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg sich getraut hat, mit einem echten Wolf zu spielen, genauer gesagt, mit zwei Wölfen, die beim Dreh wechselten – man will kaum hinsehen, weil man wie erstarrt ist vor Respekt und gemischten Gefühlen, wenn der Wolf, in einer wahrhaft schauerlichen Szene, das Menstruationsblut der Protagonistin von ihrem Bein leckt. Nie wird er freilich Freund oder Begleiter. Er bleibt das wilde Tier. Wo die Filmindustrie heute fast jedes animalische Wesen in CGI generiert und dennoch im Abspann verkündet, kein Tier sei während der Dreharbeiten verletzt worden, arbeitete das Team von Wild vor Ort mit einem Tiertrainer und allerlei essbaren Belohnungen, die den Wolf bzw. die Wölfin zum Schauspieler werden ließen. Auch die toten Kaninchen waren echt, sie kamen aus der “Tierverwertung”, die unsere Autobahnen und Landstraßen von Kadavern befreit.
Dennoch sollte man den Wolf nicht als allzu echt, allzu real ansehen. Wäre das Ganze ein Gemälde, wäre klar, dass es sich um eine Projektion, eine Ein-Bildung der Protagonistin handelt, die wir eben mitsehen. Solche “Gespenster der Vernunft” gibt es spätestens seit Bosch und Grünewald, bei Füssli und weiteren malenden Symbolisten. Der Hannibal-Lecter-Saga liegt mit dem “Roten Drachen” von William Blake nichts anderes zugrunde. Doch der Wolf in Wild ist fotografiert bzw. gefilmt, darum halten wir ihn für echt. Dass er im Bild ist, also kein echter Wolf, sondern das Bild eines echten Wolfes, in dessen Raum wir niemals eintreten werden – geschenkt. Doch soll an dieser Stelle festgehalten sein, dass wir im Kino der sogenannten Biologischen Psychologie unterliegen: Wir glauben und fühlen Gesehenes und Gehörtes – immer unter der Vorausetzung, dass es gut gemacht ist. Bei gestalterisch Minderwertigem steigen wir aus. Und: Gute Gestaltung übertrifft die Rhetorik der Story an Überzeugungskraft bei weitem.
Wäre Ania ein Kind, könnte man das Ganze als Märchen verbuchen, dort kommt der Wolf mit dem Mädchen ja prominent vor. Da Ania aber mitten im Leben steht, wenn auch für bürgerliche Kategorien ziemlich verquer, wäre die vorgeschlagene Lesart die des Porträts einer vereinsamten jungen Frau, deren Not einer besonderen bildlichen Metapher bedarf, um sie auf die Spitze zu treiben. Eine radikale Idee, ein bemerkenswerter Film – aus Deutschland.