Italien wird aus der nördlichen Perspektive geliebt, und, machen wir uns nichts vor, gern im Modus von Eat Pray Love: die gängige Eintrittszone für unsere entspannten Urlaubsphantasien ist die freundliche Toskana mit ihren vielen Juwelen. Venedig ist der gebaute Traum schlechthin; fährt man hin, kann das Erwachen hart sein. Rom wäre wiederum der Ort, um anderen Reisenden aus dem Weg zu gehen; die Römer selbst erwecken gerne den Eindruck, als ginge ihnen jeder einzelne Tourist auf den Keks. Am südlichen Stadtrand, heißt es in Rom, beginne dann schon Afrika. Das vitale Neapel hat ein ganz anderes Image als die europäisch angehauchten Metropolen des Nordens. Neapel gilt als chaotisch und gefährlich – und ein wenig mythisch. Der Mythos verdichtet sich, je südlicher man kommt, mit Sizilien als verklärtem Höhepunkt: Ein kaum zutreffendes Bild, wenn man mal länger da ist.
Das spiegeln auch Filme über Italien, denn die Kreativen des Landes reflektieren seit jeher über sich und die oft harten Bedingungen, unter denen man in dem schönen Land lebt. Wir von F!F haben einmal geträumt und den Stadtplatz von Ingelheim mit dem nostalgischen Cinema paradiso einen warmen Sommerabend lang verzaubert. Der populärste Film über Italien/er ist freilich der gewalthaltige Der Pate. Die dreiteilige Saga des Italo-Amerikaners Coppola hat wiederum die epische Kraft, die eine Qualität vieler genuin italienischer Filme ist. Davon wird heute die Rede sein, anhand eines Films, der eine märchenhafte Geschichte erzählt und doch ganz realistisch von dem italienischen Januskopf handelt, der uns im Kino immer wieder aufs Neue anblickt.
Der Film heißt Lazzaro felice, der “Glückliche Lazarus”, und man tut gut daran, sich die Episode des biblischen Lazarus, Bruder von Maria Magdalena, der “Sünderin”, vor Augen zu führen: Nach Joh.,11 wurde der einbalsamierte Mann vier Tage nach seinem Tod von Jesus aufs Neue zum Leben erweckt. Auch der neue Lazzaro hat zwei Leben; zur Mitte des Films hin stürzt er im Gebirge einen steilen Hang hinunter, erwacht wundersamerweise wie aus einem Schlaf und wandert direkt in eine zweite Existenz. Ein Kunstgriff des Films ist, dass die Handlung, zunächst unmerklich, etwa 25 Jahre überspringt; unmerklich deshalb, weil Lazzaro selbst keinen Tag gealtert ist, ebenso seine engste Familie, die ihn in den neuen Abschnitt begleitet.
So wie die Geschichte zeitlich auf den zwei Tafeln eines Dyptichons stattfindet, ist der Film auch geographisch geteilt: Zunächst spielt er auf dem Land, in einer archaischen Dorfgemeinschaft, die keinen Kontakt zur modernen Welt hat außer durch einen widerlichen Verwalter, der auf dem Moped anreist und die Bauern im Auftrag einer reichen Marchesa um den Lohn ihrer Arbeit betrügt. Lazzaro hat in dieser Gemeinschaft die Rolle des gutmütigen Naiven inne, der für jede stupide Arbeit einzuspannen ist und sich dafür auch immer noch bedankt, wie der holy fool bei John Ford. Erstaunlich die vielen Film-Verweise, die Alice Rohrwacher untergebracht hat: Man mag hier die ländlichen Kollektive wiedererkennen, die ein De Santis im Nachkrieg in der Hoffnung auf die Umkehrung solcher Besitzverhältnisse porträtierte, oder auch das Vergebliche solcher Hoffnungen in Olmis wunderbarem Holzschuhbaum. Auch Bertoluccis 1900 wird aufgerufen in der Freundschaft zweier junger Männer, die sich auf Dauer als nicht tragfähig erweist.
Denn der zweite Teil spielt in einem harten, heutigen Mailand, und der einzige Freund des ewig jungen Heiligen, der Sohn der Marchesa, ist nicht nur alt geworden, er ist in der Stadt auch zum Lügner und Betrüger verkommen. Mit seinem Namen, Tancredi, wird auf den Neffen des Fürsten Salina in Viscontis Der Leopard angespielt, dem Meisterwerk, das den Niedergang des landbesitzenden Adels zeigte; und ein wenig steckt hier auch Rocco und seine Brüder drin, die ebenfalls aus dem Süden in den kalten Norden migrierten.
Lazzaro felice geht über den sentimentalen Aufruf einer glorifizierbaren Vergangenheit aber weit hinaus. Von der klassischen Tragödie, die dem neorealistischen Film häufig als Inspiration diente, übernimmt er die Struktur: Es gibt den Helden und den Antagonisten, dazu den “Chor”, der das Drama begleitet und reflektiert. Dass der Protagonist in einem zeitlosen Bild, einem Ideal, einfriert, ist aber ein einzigartiger dramaturgischer Wurf. Er macht Lazzaro zum würdigen Teil einer großen Filmgeschichte. Ein zauberhafter Film.