Heute schreibe ich über Kinderertüchtigungsfilme. Das sind weniger Filme für die Allerkleinsten, die bekanntlich eigene Aufmerksamkeitsspannen haben und kurz & episodisch wahrnehmen. Es geht um Filme, die auch für Sechs- bis Zwölfjährige interessant sind. Vor allem geht es um Filme, die von Erwachsenen gemacht sind und von Erwachsenen gesehen werden, um an der beschriebenen kindlichen Zielgruppe und quasi mit deren Blick einen veränderten Blick auf Kinder im Allgemeinen wie im Besonderen zu entwickeln.
Solche Filme gibt es nicht oft. In ihnen regiert, bildlich gesprochen, nicht mehr der Blick von oben herab, den Kinder von unten herauf beantworten, aus der “Hundeperspektive”, wie sie von der großen Filmkritikerin Frieda Grafe am Klassiker Ladri di biciclette/Fahrraddiebe definiert wurde. “Was für eine Vaterfigur dagegen ist Chaplin in The Kid”, schrieb Grafe.
Kinderertüchtigungsfilme also. Eine Hoffnung in dieser Richtung war der Western News of the World mit Tom Hanks und Helena Zengel, aus dem Kino gebannt, diese Woche nun bei Netflix angelaufen, viel versprechend und – kein Hit. Elegisch, ohne Spannungsbogen, vorhersehbar. Was für ein Potential verschenkt wurde allein an der deutschstämmigen Johanna: Nach Texas ausgewandert, die Eltern von Indianern massakriert, genau wie die indigenen Zweiteltern von Weißen: nun ist eine white captive, ein spannendes Subgenre innerhalb des Western. Statt die Geschichte über Perspektive, Psychologie und Wahrnehmung des Mädchens zu erzählen, erlebt man von ihr vor allem Symptome. Helena Zengel darf viel schreien. Am Ende ist immer der gütige Tom Hanks da, der das Kind behütet und beschützt.
Wir von F!F müssen Filme nicht besser machen, als sie sind. Wir müssen auf bessere Filme hinweisen. Moonrise Kingdom (2012) von Wes Anderson etwa, in dem zwei Zwölfjährige auf einer Insel ausbüchsen, scheu den ersten Kuss versuchen und noch viel mehr Aufregendes passiert; in diesem Film mit seiner eigenartigen Perspektive sieht man die Erwachsenen, und das sind hier immerhin Bruce Willis, Frances MacDormand und Tilda Swinton, selbst wie zu groß gewordene Kinder, die immer noch verzweifelt versuchen, dieser Welt eine Ordnung zu geben, die ‘von unten’ ziemlich grotesk erscheint.
Ähnlich, aber noch einmal ausgeprägter, funktioniert Jojo Rabbitt, der vor dem ersten Lockdown bei uns noch im Kino war. Johannes “Jojo” Betzler (Roman Griffin Davies) ist ein glühender Hitlerjunge; er hat einen Freund, den nur er alleine sieht und der dem realen Adolf Hitler verteufelt ähnlich ist. Er hat auch einen realen Freund, den kleinen, dicklichen Finkel, der Jojos Wandlung durch die Zeiten mitmacht (Alfie Allen ‘stiehlt’ dabei jede Szene, in der er auftritt). Jojo Rabitt, der seinen Spitznamen von einer Mutprobe in der Hitlerjugend hat, bei der er als ‘Hasenfuß’ kläglich versagt, kann sich selbst der Sympathie eines echten Nazioffiziers erfreuen, der am Ende gar sein Leben für Jojo opfert. An Sam Rockwell kann ich mich nicht sattsehen.
Und dann gibt es noch zwei wichtige Frauen in Jojos Leben, die Mutter, die heimlich im Widerstand ist und dies büßen wird (einmal mehr grandios: Scarlett Johansson), sowie ein jüdisches Mädchen, das die Mutter im Dachstuhl des eigenen Hauses versteckt hält. Zu ihr, Elsa, entwickelt der Junge eigenartige Gefühle, die er sich anfangs nicht eingesteht, weil sie doch Jüdin ist und, gemäß der Ideologie, der er anhängt, eigentlich auch Hörner haben müsste.
Es ist nicht alles gelungen an Jojo Rabbitt. Was ich mag, ist die unversehene Kulisse der deutschen Kleinstadt, die in den tschechischen Städtchen Žatec und Úštěk gefunden wurde. Der Film ist großartig ausgestattet. Und dann die hemmungslose Begeisterung, mit der Sozialisation und Wandlung des naiven Jungen im Nationalsozialismus als popkulturelle Initiation erzählt werden. Nicht einmal als geschichtsbewusster Deutscher zuckt man zusammen angesichts der eindeutigen Rollenverteilung, der Dosis an Groteske, und fühlt sich doch unwohl, weil einem die gewohnten Reflexe in die Quere kommen.
Nichts funktioniert so gut wie Popmusik, um einen derart subversiven Plan umzusetzen. Nazitum als Pop-Erzählung: Das Intro des Films ist unterlegt mit “Komm gib mir deine Hand”, als hätten die Beatles für Hitler gesungen; am Ende singt David Bowie von “Helden”: Die waren die Deutschen selbst nach dem Krieg, wenn auch zerbrochene, zerbröselte. Der Anfang der Popmoderne mit den Beatles, der Anfang der Postmoderne mit Bowie, dazwischen begeisterte Nazis. Das ist was Neues.