Der Tod ist eines der großen Themen der Philosophie. Auch im Film kommt er dauernd vor. Im Kriegsfilm, im Thriller, im Melodram, überall wird gestorben und getrauert. Dann geht anderes Leben weiter. Im Western, hat der Historiker Gerd Raeithel geschrieben, seien hundertmal mehr Indianer gestorben als in den echten Indianerkriegen. Vielleicht nehmen wir – unserer Medienerfahrung geschuldet – den Tod nicht ganz so ernst, wie er es verdient.
Pragmatisch gesagt, bietet das reale Leben genug Zeit, um über das Ende nachzudenken; im besten Fall wird man alt dabei. Der Protagonist von Manchester by the Sea dagegen hat sein Leben schon hinter sich, er ist ein Dead Man Walking. Lee (Casey Affleck) haust wie unterirdisch, als Hausmeister einiger Wohnblocks in Boston. Seinen Job macht er routiniert. Menschliche Interaktion versucht er zu meiden. Ins Leben zurückgeholt wird er paradoxerweise durch ein weiteren, den plötzlichen Tod seines Bruders, der einen 16-jährigen Sohn hinterlässt. Dieser Patrick (Lucas Hedges), stellt Lee vor eine neue Aufgabe. Das ist Ausgangslage und Entwicklungspotential des Films.
Nach Billy Wilder fängt ein guter Film mit zwei, drei Toten an und steigert die Dosis dann langsam. In Manchester by the Sea wird das Grauen nicht durch weiteres Sterben größer, sondern indem man das Geheimnis erfährt, das Lee vom Leben ausschließt: Er hatte selbst in Manchester ein tolle Familie, Frau und drei Kinder, die er aus eigenem Verschulden verlor. Wie, sei nicht verraten, aber jeder Mensch, der einen Funken Familiensinn in sich trägt, wird die Tragik dieses einsamen Mannes nachvollziehen. Seine Ex-Frau ist mittlerweile mit einem anderen Mann zusammen und bekommt ein Kind. Die wenigen Treffen mit ihr gehören sowohl für Lee wie für uns, die wir Casey Affleck bei seinem Leiden zusehen, zu den emotionalen Höhepunkten des Films.
Dabei hat auch Lee Emotionen; in der Kneipe, nach dem soundsovielsten stummen Bier, schlägt er schon mal unvermittelt zu. Und Patrick kann ihn auf die Palme bringen. Der bedauert und betrauert zwar seinen Vater glaubhaft, doch überwiegen bei ihm die tastenden Egoismen des Heranwachsenden. Auf den ewigen Streit hin, ob er nun zu seinem Onkel nach Boston ziehen muss oder nicht, zählt er seine Band auf, den Hockeyverein, die beiden Mädchen, mit denen er etwas hat. Und er will unbedingt das Boot halten, auf dem er in einer Art Leiterinnerung als etwa Achtjähriger zu sehen ist, gemeinsam mit Vater und Onkel, die ihn in die Geheimnisse des Hochseefischens wie des Lebens einweisen. Lee und Patrick haben eine Beziehung, die aus dem gemeinsamen Erinnerungspool herrührt. Was sie damit nun anfangen, ist sehr verschieden: Der eine reibt sich im Hockeyclub und an seinem Onkel, lotet das Terrain von Liebe & Sex aus, besucht seine bigotte Mutter. Wo sich Patrick auf den Weg ins Leben macht, steht für Lee eine Schranke. Er verwaltet nur den Status quo. Seine Entwicklung ist winzig, sie äußert sich meist nur in einem leichten Nicken in Richtung Schicksal.
In einem dichten Gewebe von Rückblenden und präsentischer Ebene, die nach dem Tod des Bruders einsetzt, entwickelt sich das Spinnennetz, in dem Lee gefangen sitzt, zur absoluten Nachvollziehbarkeit. Im Gegensatz zum normalen Helden des amerikanischen Films, den Rückschläge erst entflammen, fühlt sich für Lee der Dauerstatus des Trauernden richtig an. Das hat Effekte auf die Dramaturgie des Films. Zwar sehen wir Lee durchaus eingebunden in ein Netz von Familie und Freunden, auch die Außenwelt von Manchester im Staat New Hampshire ist freundlich und aufgeräumt, und doch ist emotional, für uns, mit Lee, tiefer Winter; tatsächlich bleibt es draußen lange kalt, zu kalt, um den Bruder in die Erde zu betten. Das ändert sich gegen Ende und wird so schon zum Fortschritt in einem Film, der den Blick auf jenen schmalen Grat eröffnet, an dem sich mehr oder weniger unbedacht gelebtes Leben von der Tragödie scheidet. Im zweiten Teil, wenn man den bitteren Ablauf kennt, ist es dann die Musik, die tröstet: Elegische Tonbilder, die einem hindurchhelfen durch diesen traurigen, überaus eindrucksvollen Film. Was man auf dieser Reise erlebt, fasst wieder einmal Lou Reed in Worte und Töne: First came fire, then came light. Then came feeling, then came sight.