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Souverän setzte sich Fritz Lang in seinem ersten Tonfilm über vieles hinweg, was das Sprechtheater dem Film vorgab. Dort gehören gehören in der Regel zu einem Körper, der sichtbar wird. Dagegen wirken die ersten Minuten von M wie die Demonstration eines neuen Raums, den erst der Tonfilm zeigen kann: der akustische Raum. Noch zur schwarzen Leinwand hört man den Abzählreim „Warte, warte nur ein Weilchen / bald kommt der schwarze Mann zu dir / mit einem kleinen Hackebeilchen / macht er Schabefleisch aus Dir.“ Kinder spielen auf einem Berliner Hinterhof, ein Mädchen schließt ab: „Und Du bist raus.“ Raus ist erstmal die Kamera; sie absentiert sich auf einen Balkon der Mietskaserne. Unten geht das Grauen versprechende Spiel hörbar weiter. Gleich sagt die Mutter der kleinen Else zu einer anderen Mutter: „Solange man se singen hört, da weeß man wenigstens, dasse noch da sind.“
Ein Irrtum, wie sich herausstellt. Denn Else, sehen wir als nächstes, begegnet auf dem Heimweg von der Schule ihrem Mörder. Nun agiert Lang demonstrativ mit On und Off. Else wirft ihren Ball gegen eine Litfasssäule, die Kamera schwenkt nach oben, zu einem Fahndungsplakat nach einem Kindesmörder. Das Mädchen bleibt unterhalb des Kamerarahmens, nur der Ball fliegt noch ins Bild. Auf dem Plakat erscheint der Schatten eines Profils, eine hohe Männerstimme spricht aus dem Off: „Du hast aber einen schönen Ball! Wie heißt Du denn?“, und das Kind, ebenfalls aus dem Off, antwortet: „Else Beckmann“. Dagegen setzt Lang sonar-optische Zeichen: Das gepfiffene Motiv aus der Peer Gynt-Suite, das später den Mörder identifizieren wird, und den Luftballon, der davonfliegt, so wie gleich das Leben des Kindes.
Dann übernimmt in M die Sprache doch wieder den Diskurs, auch wenn Lang immer wieder mal auf seine Entdeckung hinweist. In Paris definierte André Bazin dazu das Hors-champ, das Außerhalb des Bildfeldes, und den Cadre-cache, die zwei Räume des Films: den von der Kamera gezeigten und den anderen, den sie verbirgt und der doch wichtig werden kann. In Babelsberg demonstrierte Lang, wie das geht: Ein Sachverständiger der Polizei beschreibt das vermutete Profil des pathologischen Mörders. Dazu sieht man Peter Lorre in einem Spiegel, vor dem sitzend er zu den Worten des Profilers passende Grimassen vollführt. Die Voice-over geht mehrere Minuten weiter und illustriert Bilder von den Ermittlungen der Kripo.
Es ist ein Jammer, dass sich im Schreiben über Film das Wörtchen „off“ so flächendeckend durchgesetzt hat. Hilfreich wäre, für die differenzierten Anwendungen, wie sie Lang früh vorführte, von einem diegetischen, einem erzählten Off zu sprechen. Das wäre der an den Rahmen angrenzende Raum, der, aktiv in den Bildeindruck integriert, das Sichtbare mitbestimmt. Das Gegenteil wäre die erzählende Sprecherstimme, auch göttliche Stimme genannt, die wie ein Score nicht aus dem Geschehen heraus, über die Bilder gelegt ist. In unserem Fall wäre von einem Voice-over zu sprechen.
Das Filmmuseum Potsdam hat vor Jahren ein Heft mit den Vorbildern Langs publiziert, barocke Grotesken, Arbeiten des Jugendstil-Meisters Czeschka, die Brueghel-Sammlung des Kunsthistorischen Museums zu Wien. Doch der Kunst wird in Langs Films nicht als Kunst gehuldigt – sie wird zu Zeichen, die unserem Blick aufstoßen, ihn aus der Erzählung reissen, etwas bedeuten.
In der Erzählung wird M offen brechtisch. Die das Geschehen in der Stadt beherrschen, sind die Ganoven, Zuhälter, Diebe, die Chefs der Unterwelt (unter den Schauspielern die jungen Gustaf Gründgens und Theo Lingen). Vieles darf man hier, doch mit Kindermord will die ehrenwerte Gesellschaft nichts zu tun haben. Die Ordnung müsse wieder hergestellt werden, heißt es, eine Ordnung, die der des Staats frappierend ähnelt. Mit der Hilfe der Bettler Berlins, ebenfalls vom Kartell organisiert, stellt man den Mörder. Im letzten Akt des Films wird ihm der Prozess gemacht. Nun schlägt die große Stunde des Schauspielers Peter Lorre.
Es ist ein erbärmliches, menschenverachtendes Tribunal, das die Zunft mit dem Kindesmörder veranstaltet. Lorre, beeindruckend mit seinem Basedowblick, reagiert mit verzweifeltem Winseln um sein Leben. Doch er ist verloren, so wie der reale Peter Lorre Deutschland verloren ging. Brecht richtete an den aus Deutschland Verjagten und nicht Zurückkehrenden ein Gedicht: „Und nichts anderes / können wir dir bieten / als dass du gebraucht wirst.“