Auf Netflix.
Stundenlang dicht gedrängt zwischen unbekannten Menschen zu stehen ist mir ein Graus. Also fuhr ich am 15. Juni 1999 auf meiner Vespa PX 200 in die Nähe des Kickers-Stadions auf dem Bieberer Berg, sank ins Gras, schloss die Augen und sang vier Stunden mit, wenn mir ein Stück Text einfiel. Ich war allein, im Park hinter der Bühne. Glücklich. Und dann kam der Boss. Bruce Springsteen, erschöpft, gestützt auf Patti Scialfia und einen Roadie, wankte die Backstage-Stufen herunter, 50m entfernt, und sank in einen Bus. Zwischen uns war nur noch ein Zaun. Und er sah mir einen Moment lang in die Augen. Ganz sicher.
Das war einer dieser Momente, wie sie sich ab und zu auch im Kino einstellen: Wie ein Blitzschlag, nicht zu konservieren und doch als Bild fürs Leben ins Gedächtnis eingebrannt. Die Hirnforschung hat dafür schlaue Hypothesen ausgebildet. Menschen verfügen über Regionen im Gehirn, die affektive Reize verarbeiten. Die Neuronen der Assoziationsareale aktivieren dann die Zellverbände der prämotorischen Cortexareale, heißt es im Fachjargon. Verständlicher: Subjektive Wahrnehmung wird mehr von Erwartungen, Erfahrungen und Aufmerksamkeitsprozessen unseres Cortex beeinflusst als von den visuellen Informationen, die über die Retina eintreffen. Wir hoffen auf solche Bilder, und wenn sie dann tatsächlich ankommen, bleiben sie in unserem emotionalen Gedächtnis haften. Der Hirnforscher Ernst Pöppel hat ein kluges Buch darüber geschrieben, wie Emotionen zu solchen Bildern werden können.
Der 16-jährige Jarved erlebt haufenweise solche Momente, und sie sind, für ihn und für uns, immer mit der Musik von Bruce Springsteen verbunden. Blinded by the Light ist ein Feelgood-Movie der indischstämmigen Regisseurin Gurinder Chadha. Die Handlung in einem Satz: Ein in Luton, England aufwachsender Pakistani mit einem strengen, orthodox erziehenden Vater findet mit Hilfe von Springsteens Musik den Weg hinaus ins Leben. Das Ganze spielt im 1980er-England von Maggie Thatcher, ist also ganz schön retro; der Boss passt schon nicht mehr so recht in die Ära des Punk, geschweige denn in die heutige Zeit.
Doch der Film kommt aus dem Jahr 2019, und durch seine Bildsprache wie das Thema ist er so aktuell wie überzeitlich. Das lässt sich an der Filmminute 24 beschreiben, als Jarved zum ersten Mal mit der Musik seines künftigen Idols in Berührung kommt: Wir sehen ihn mit Kopfhörer, hören mit ihm Dancing in the Dark, und plötzlich fliegen die gesungenen Worte ins Bild, umkreisen die Figur, nisten sich auf Wänden ein, um von da wieder abzufliegen. In der schönen Sequenz, als Jarved seine Freundin kennenlernt, singt und tanzt ein ganzer Trödelmarkt zu Thunder Road, mit dem Jarved das Mädchen anflirtet. Die sichtbare Welt der diegetischen Erzählung wird um die Dimension erweitert, die Springsteens Musik in der emotionalen Erinnerung vieler Menschen hat. Individuelles wird zum kollektiven Erleben.
Kein großer Film – groß ist daran nur die Musik. Groß, einfach, authentisch. Irgendwie das Beste Amerikas. Springsteens Songs sind organisch eingliedert in ein schönes Coming-of-Age mit originellen Typen um den zentralen Jungen und seine Freundin herum.
Jarved geht es wie vielen, die mit dieser Musik groß geworden sind und ihre eigenen Erlebnisse mit dem Boss hatten. All diese Geschichten sind individuell und verschieden. Und doch sind Teile meiner Generation von diesem Mann aus New Jersey geprägt und auch geeint. Schwer zu beschreiben, woran das liegt, weil es um emotionale Erfahrungen geht. Am besten vielleicht mit Worten aus Springsteens Autobiographie Born to run: „Plötzlich war ich Teil jenes geheimnisvollen Zugs der Popmusik, der mich schon damals, als ich noch im Auto meines Großvaters an den ‚Knöpfen‘ des Funkturms vorbeirollte und einlullende Doo-Woop-Klänge meine schläfrigen Augen liebkosten, in seinen Bann gezogen und seither nie wieder losgelassen hat. Das hatte mich in diesen Jahren am Leben erhalten und mir die Luft zum Atmen geschenkt. … Musik aus dem Radio ist wie ein gemeinschaftlicher Fiebertraum, eine kollektive Halluzination, ein mit Millionen geteiltes Geheimnis, ein Flüstern im Ohr eines ganzen Landes.“ Und es folgt ein Fazit, das man gut nachvollziehen kann, wenn man noch mit vergleichsweise wenig Medien aufgewachsen ist: „Ein DJ rettete mein Leben.“