FILMTIPP #61: BLINDED BY THE LIGHT VON GURINDER CHADHA (GB 2019).

Bildquelle: taz.de

Auf Netflix.

Stundenlang dicht ge­drängt zwischen unbekannten Menschen zu stehen ist mir ein Graus. Also fuhr ich am 15. Juni 1999 auf meiner Vespa PX 200 in die Nähe des Kickers-Stadions auf dem Bieberer Berg, sank ins Gras, schloss die Augen und sang vier Stun­den mit, wenn mir ein Stück Text einfiel. Ich war allein, im Park hinter der Bühne. Glück­lich. Und dann kam der Boss. Bru­ce Spring­steen, er­schöpft, gestützt auf Patti Scial­fia und ei­nen Roa­die, wank­te die Back­sta­ge-Stu­fen herun­ter, 50m entfernt, und sank in einen Bus. Zwi­schen uns war nur noch ein Zaun. Und er sah mir einen Mo­ment lang in die Augen. Ganz sicher.

Das war einer dieser Momente, wie sie sich ab und zu auch im Kino einstellen: Wie ein Blitzschlag, nicht zu konservieren und doch als Bild fürs Leben ins Gedächtnis eingebrannt. Die Hirnforschung hat da­für schlaue Hypothesen ausgebildet. Menschen verfügen über Reg­ionen im Gehirn, die affektive Reize verarbeiten. Die Neuronen der As­so­zia­tions­areale aktivieren dann die Zellverbände der prämotorischen Cor­tex­area­le, heißt es im Fachjargon. Verständlicher: Subjektive Wahr­neh­mung wird mehr von Erwartungen, Erfahrungen und Auf­merksam­keits­pro­zes­sen unse­res Cortex beeinflusst als von den visuel­len Informa­tio­nen, die über die Retina eintreffen. Wir hoffen auf solche Bilder, und wenn sie dann tatsächlich ankommen, bleiben sie in unserem emo­tio­nalen Ge­dächt­nis haften. Der Hirnforscher Ernst Pöppel hat ein kluges Buch darüber geschrieben, wie Emotionen zu solchen Bildern werden können.

Der 16-jährige Jarved erlebt haufenweise solche Momente, und sie sind, für ihn und für uns, immer mit der Musik von Bruce Springsteen verbun­den. Blinded by the Light ist ein Feelgood-Movie der indischstämmi­gen Regisseurin Gu­rin­der Chadha. Die Handlung in einem Satz: Ein in Luton, England auf­wach­sender Pakistani mit einem strengen, orthodox erzie­hen­den Vater findet mit Hilfe von Springsteens Musik den Weg hi­naus ins Leben. Das Ganze spielt im 1980er-England von Maggie That­cher, ist also ganz schön retro; der Boss passt schon nicht mehr so recht in die Ära des Punk, geschweige denn in die heutige Zeit.

Doch der Film kommt aus dem Jahr 2019, und durch seine Bild­sprache wie das Thema ist er so aktuell wie überzeitlich. Das lässt sich an der Film­minute 24 beschreiben, als Jarved zum ersten Mal mit der Musik seines künftigen Idols in Berührung kommt: Wir sehen ihn mit Kopf­hö­rer, hö­ren mit ihm Dancing in the Dark, und plötz­lich fliegen die ge­sun­genen Worte ins Bild, umkreisen die Figur, nisten sich auf Wän­den ein, um von da wieder abzufliegen. In der schönen Se­quenz, als Jar­ved seine Freundin kennen­lernt, singt und tanzt ein ganzer Trödel­markt zu Thun­der Road, mit dem Jarved das Mädchen anflirtet. Die sicht­bare Welt der diegetischen Erzählung wird um die Dimension erweitert, die Spring­steens Musik in der emotionalen Erin­ne­rung vieler Menschen hat. Indivi­duelles wird zum kollektiven Erleben.

Kein großer Film – groß ist daran nur die Musik. Groß, einfach, authen­tisch. Irgendwie das Beste Amerikas. Springsteens Songs sind orga­nisch einglie­dert in ein schönes Coming-of-Age mit originellen Typen um den zen­tra­len Jungen und seine Freundin herum.

Jarved geht es wie vielen, die mit dieser Mu­sik groß geworden sind und ihre eigenen Erlebnisse mit dem Boss hatten. All diese Geschich­ten sind individuell und verschieden. Und doch sind Teile meiner Generation von diesem Mann aus New Jersey geprägt und auch ge­eint. Schwer zu be­schrei­ben, woran das liegt, weil es um emo­tionale Er­fah­rungen geht. Am besten vielleicht mit Worten aus Springsteens Au­tobio­gra­phie Born to run: „Plötzlich war ich Teil jenes ge­heimnis­vol­len Zugs der Popmusik, der mich schon damals, als ich noch im Auto mei­nes Groß­vaters an den ‚Knöpfen‘ des Funkturms vor­beirollte und ein­lul­lende Doo-Woop-Klän­ge meine schläfrigen Augen liebko­sten, in sei­nen Bann gezogen und seit­her nie wieder losgelassen hat. Das hatte mich in die­sen Jahren am Le­ben erhalten und mir die Luft zum Atmen ge­schenkt. … Musik aus dem Radio ist wie ein gemeinschaft­li­cher Fieber­traum, eine kollektive Halluzination, ein mit Millionen ge­teiltes Ge­heim­nis, ein Flü­stern im Ohr eines ganzen Landes.“ Und es folgt ein Fazit, das man gut nachvoll­zie­hen kann, wenn man noch mit vergleichsweise wenig Me­dien aufge­wach­sen ist: „Ein DJ rettete mein Leben.“

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