Eine Seuche, “der Große Tod”, wird in das kleine nordische Städtchen getragen. Die Menschen müssen in Quarantäne. Viele sterben. Nicht nur deshalb wirkt Nosferatu ziemlich aktuell. Der Film wurde zu der Zeit gedreht, als Sigmund Freud in Wien an Das Ich und das Es arbeitete. Es lohnt sich, nach den unbewussten Motivationen der drei Hauptfiguren zu fragen, die sich hinter dem vordergründigen Tun abzeichnen. Zuerst mal geht es ums Geschäft: In heutiger Diktion wird der junge Hutter als Angestellter eines Immobilienmaklers auf eine Reise geschickt, um einen Investor in die Stadt zu holen (der die Seuche dann einschleppt). Hutters Frau Nina sieht das Kommende voraus und erwartet es ängstlich, um sich dem unheimlichen Besucher in einer Totalen dann ziemlich freiwillig hinzugeben. Und da ist der Graf Orlok a.k.a. Nosferatu, der schlaksige Vampir. Sein eigentliches Begehren kann er kaum kaschieren. Bevor er Nina aussaugt, wandern seine Hände im Schattenriss über ihren weißen Körper.
Modern ist der Film auch, obwohl er schon zu seiner Entstehungszeit Vergangenes erzählte, eine Fabel aus dem Jahr 1838, die von Bram Stokers Roman Dracula von 1897 dann überschrieben wurde. Murnau tut viel, die alte, unheimliche Historie plausibel zu machen, mit Blicken in Bücher, Briefe, Chroniken und Reminiszenzen an gerahmte Fotografien des 19. Jahrhunderts. Doch seine Motivik ist auf der Höhe seiner Zeit, sie zeugt vom Sieg des scheinbar trivialen Bewegtbildes über alles vorher Dagewesene. Allein die Tier-Metaphern: eine Hyäne zu Beginn, die allgegenwärtigen Ratten, die Fliege, die ins Maul der fleischfressenden Pflanze gerät. Dann Bilder von Landschaften und vom Gebirge. Das sich kräuselnde Meer. Das Schiff, das wie auf Socken in den Hafen von Wismar einfährt, um den Tod zu bringen.
F.W. Murnau ist der große Naturalist des Stummfilms, gerade weil er als Künstlernamen die berühmte oberbayrische Malerkolonie gewählt hatte (eigentlich kam er aus Bielefeld und hieß Plumpe). Wichtiger, dass er den Film als Piktorialist mit der Kamera voranbrachte: ein Maler auf der Basis bewegter Fotografie. Nur die Biedermeier-Kulissen der vielen Drehorte verweisen auf die Vormoderne. Sie dienen als Bühne für das Drama eines Ausgestoßenen, der sich an den sogenannten Normalen versucht, um am Ende einfach zu verpuffen. Mit einer solchen Figur hat man eher Mitleid. Von einem wirksamen Horrorfilm kann nicht die Rede sein. Wäre man auf echten Horror aus, der durch ein entsprechendes Ungeheuer ausgelöst wird, müsste man zu Francis Coppolas Bram Stoker’s Dracula (1992) greifen, der getreuesten Umsetzung des Romans und in der Umsetzung doch sehr filmisch.
Was haben solche Figuren mit uns zu tun? Warum ist das Horrorgenre so beliebt? Was bedeuten all die Monster, welchen Sinn machen sie in unserem Leben? Ist der Vampir in Nosferatu nicht viel mehr ein Mensch, Außenseiter zwar, aber keinesfalls dessen eine animalisierte Mutation, eine Bestie?
Als Antwort kann man auf eine Art Gegenentwurf verweisen, auf den Wolf. Im Märchen soll er als bewahrpädagogische Warnung an Kinder gelesen werden, in Filmen für Erwachsene sind Wölfe auf menschliche Beute aus, so in La tuile à loups/Wolfsziegel (F 1972), in dem sie ein Dorf regelrecht belagern. Die sexualisierte Variante ist der Werwolf, halb rationaler Mensch (Mann), halb instinktgetriebenes Tier. Dafür gibt es eine wissenschaftliche Erklärung, die mit einer bipolaren Persönlichkeitsstruktur zu tun hat; viel öfter muss der Wolf aber einfach als Sündenbock herhalten. Das verstärkt die Wahrnehmung in der medialen Distanz. Nur in Dokumentarfilmen darf der Wolf eine Kreatur sein, die ihren genetisch gegebenen Instinkten folgt. ‘Böse’ werden Tiere immer dann, wenn sie instrumentalisiert und mit humanoiden Absichten ausgestattet sind. Und über allem regiert das Prinzip Homo homini lupus. Am Ende ist der Wolf selbst an der Wall Street eine Gefahr.