Die Geschichte des Alvin Straight wirkt wie der Gegenentwurf zu allen anderen Filmen des Amerikaners David Lynch. Dort geht es um Außenseiter, die sich nicht einfangen lassen, deren soziale Desintegration Ausbrüche, Exzesse und Hass auf die sogenannten Normalen der Gesellschaft bewirken. Kommunikation geht für die leidgeprüften Existenzen in Lynchs Paralluniversen oft nur über den Weg der Gewalt, gegen andere oder gegen sich selbst. Und die Wege dieser Filme sind verschlungen, verschachtelt, unvorhersehbar.
Der Weg von Alvin hingegen ist eindeutig. Er führt in gerader Linie, als straight line, an sein Ziel, auf den Landstraßen, die von Laurens, Iowa, nach Mt. Zion in Wisconsin führt, wo Alvins Bruder Lyle einen Schlaganfall überlebt hat. Alvin ist 73 Jahre alt; er will den älteren Bruder einmal noch sehen, mit dem er zuvor zehn Jahre lang nicht gesprochen hat. Und so begibt er sich auf eine Reise von mehr als 300 Meilen. Er hat nichts, was ihn auf diese Reise besonders gut vorbereitet, zumindest keine äußerlichen Hilfen – wenig Geld und auf den ersten Blick ein unzureichendes Gefährt, einen Rasentraktor der Marke John Deere. Aber Alvin Straight hat eine Menge Lebenserfahrung und ein unerschütterliches Vertrauen in alle Menschen, die er trifft. Dieses Vertrauen wird ihm andauernd zurückgezahlt.
Die Eigenart eines Lynch-Films erkennt man nicht, indem man den Plot nacherzählt. Man muss diese Filme – mehr als die meisten anderen – in etwa sehen, wie man Malerei anschaut. Straight Story wird dann zur Pastorale, zur langen, ruhigen Bildmeditation über das Heartland, das ländliche Amerika, im späten 20. Jahrhundert. Lynch unterstreicht die Zeitlosigkeit seiner Erzählung durch Blicke von oben, auf distanzierte Figurationen von Landschaft, wie sie kultiviert oder noch unvernutzt aussieht. Auf den Feldern bewegen sich Ernter, Mähdrescher und Traktoren. Sie werden bei ihrem Tun nur neugierig betrachtet, ohne jede Kritik oder ökologische Note. Man sieht Alvins winzigen Traktor mit dem Anhänger wie eine Raupe am Horizont gegen die orangene Sonne. Fünf Mal gliedert das sternenüberzogene Firmament den Film, auch als erstes und letztes Bild des Films. In diesen Momenten weiss man, dass Alvin Straight tatsächlich nur den Himmel, sprich: die Vorsehung über sich hat.
David Lynch (geb. 1947) ist ein akademisch ausgebildeter Maler, er hat die für einen Amerikaner obligatorische Zeit in Europa hinter sich gebracht, mit Studien u.a. bei Oskar Kokoschka.- Seine frühen Filme Eraserhead (1977) und The Elephant Man (1980) riefen Expressionismus und Surrealismus auf. Mit Blue Velvet (1986) und der Serie Twin Peaks (ab 1992) wandte er sich dem Subgenre Americana zu. Zum Regionalismus, wie ihn Grant Wood, Alexandre Hogue und in Teilen auch Edward Hopper geprägt hatten, fügte Lynch eine Prise Verunsicherung hinzu. Die Geschichten gehen nicht mehr auf, immer ist da etwas, was die Harmonie sprengen kann. Stilbildend war Blue Velvet, der hinter dem Vorstadtidyll eine wüste Gegenwelt etablierte. Der Film beerbte die ausgegorene Romantik Hollywoods, machte sie erwachsen. Schöne Bilder wurden zu Wunschbildern. Lynch rieb sich dabei an der unvollendeten Moderne, die sich nach 1933 nicht länger an Avantgarde und Aufklärung, sondern an der Warenwelt orientierte. Malerei und Skulptur war im technischen Zeitalter nicht mehr auf das Schöne verpflichtet; Lynch holte diesen Schritt für den Film nach. Man hat in Blue Velvet als ersten postmodernen Film gesehen mit seinen übertriebenen Symbolismen, dem Festhalten an der heilen Welt, die von innen heraus erodiert, mit den aufdringlichen Farben der Pop-Moderne, die das schöne, gesättigte Technicolor mit einem Mal alt aussehen ließen.
Selbst wenn es in The Straight Story ein paar Zeichen Lynch’scher Verunsicherung gibt, wird man den Film dann aber doch mit Augen sehen, die den mimetischen Qualitäten von Malerei, Fotografie und Film noch vertrauen. Hier erscheint eine ganzheitliche Welt, weil die Welt mit Alvin Straights Blick darauf nicht erschüttert oder gespalten erscheint; so wäre, wenn man so will, noch einmal der Abbildtreue der äußeren Realität zu trauen. Dann wären sozusagen zum letzten Mal auch die Gattungen der Malerei zu Rate zu ziehen: die Historie, das Porträt, das Genre (im Sinn des Sittenporträts), die Landschaft und das Stilleben, das Alvin in einem schönen Sprach-Bild, mit dem er eine Drifterin über den Wert der Familie aufklärt, als Parabel nutzt.
Harry Dean Stanton hat als Bruder Lyle am Ende des Films zwei kurze Sätze. Dafür bekam er 2017 mit Lucky (2017) eine Fortsetzung, in der Schauspieler und Figur 90 Jahre waren und ebenso eigenartig sind wie die Brüder Straight.