Zweieinhalb Stunden nach Filmbeginn fährt der 18-jährige Mason (Ellar Coltrane) mit seinem kleinen Pick-up nach Austin, Texas. Er will dort ein Studium der Fotografie beginnen. In den wenigen verbleibenden Minuten des Films lernt er sehr rasch neue, vielversprechende Leute kennen. Mason sieht einer guten Zeit entgegen. Diesen Schluss konnte der Regisseur und Autor Richard Linklater nicht unbedingt planen, als er zwölf Jahre vorher mit dem Buch und den Aufnahmen zu Boyhood begann.
Wie der Titel andeutet, geht es um eine mehr oder weniger prototypische Kindheit, Jugend und beginnendes Erwachsensein eines männlichen amerikanischen Individuums. Mason hat eine etwas extrovertierte Schwester, Samantha (Lorelei Linklater), dazu die alleinerziehende Mutter und den leiblichen Vater, den er regelmäßig sieht. Boyhood schildert berührend die Entwicklung einer Patchworkfamilie in den Vereinigten Staaten von Amerika zu Beginn des dritten Jahrtausends.
Einzigartig ist die Produktionsgeschichte, die bedingend in die Erzählung einging: Linklater versammelte sein Team über die Zeitspanne von 2002 bis 2014 alljährlich ein paar Tage und nahm sich dabei jeweils einen neuen Abschnitt vor. Immer ist Sommer. Mit Kapiteln oder Ab- und Aufblenden hilft einem der Film nicht. Dass sehr viel Zeit vergeht, ist vor allem am Älterwerden Masons und Samanthas abzulesen. Eine solche Jugend hat es in sich, vom leicht pausbäckigem Jungen, der Bonanzarad fährt und gleich zu Beginn nicht einmal von seinem Freund Abschied nehmen darf, weil die Mutter zum x-ten Mal hastig umzieht, über den Teenager, der seine Grundsicherheit tatsächlich nie verliert, bis zum schlaksigen freshman, bei uns: Erstsemester.
Linklater pflegte einen im Prinzip dokumentarischen Ansatz, wie man ihn aus echten filmischen Langzeitbeobachtungen kennt. Dieser Ansatz kollidiert wundersamerweise nicht mit den fiktionalen Elementen, die hinzu kommen. Die Mischform hätte aus vielerlei Gründen scheitern können, etwa am mangelnden schauspielerischen Talent der jungen Protagonisten. Aber Mason bleibt immer bei sich, wird (oder ist?) ein eher zurückhaltender Mensch, der im richtigen Moment eine eigene Meinung entwickelt und auch einmal einen Schalter umlegen kann. Zusammen mit Samantha nimmt er eine glaubhafte Entwicklung, wohl auch, weil beide Akteure ihren eigenen Charakter am Set nicht kaschieren mussten. Eine spürbare andere Qualität bringen die beiden Profis ein, die sich behutsam – wie gute Eltern eben – auf ihre beiden Filmkinder einließen. Mason sr. (Ethan Hawke) ist deutlich zu jung Vater geworden; er weiss das selbst. Im Lauf der Jahre wächst er in eine Rolle hinein, die ein gelingendes Leben bedeuten könnte. Irgendwann übernimmt er auch als Vater neue Verantwortung. Für Mason jr. bleibt er über die Jahre verlässlich, auch wenn der am Ende den geliebten Pontiac GTO nicht erben wird. Das emotionale, damit krisennahere Zentrum des Geschehens ist Olivia (Patricia Arquette). Die junge Zweifach-Mutter kämpft sich zur engagierten College-Dozentin durch. Mit Männern hat sie weiter kein Glück. Gerne wissen würde ich, ob Arquette für die wenigen Drehtage vorsätzlich Kilos zugelegt hat, wie das SchauspielerInnen manchmal auferlegt wird. Auf alle Fälle erscheint “natürlich”, dass ein Mensch in seinen mittleren Jahren rundlicher wird.
Boyhood vertritt den Widerspruch eines natürlichen Konstrukts: Unter Zuhilfennahme äußerst elliptischen Erzählens erlebt man eine organische Geschichte, die als “Strom des Lebens” daherkommt. Interessant ist, wie wir Zuschauer auf die an diesem Film besonders evident werdende Dynamisierung des Raums und Verräumlichung der Zeit reagieren, die der Theoretiker Panofsky als generelles Merkmal der Kunstform Film identifiziert hat. Was den Raum betrifft, sind wir von dieser Kunst seit jeher große Sprünge gewöhnt – Stanley Kubrick ließ uns vom Menschenaffen ins bewohnte Weltall springen. Das heißt, wir sehen filmisch weniger den dreidimensionalen, wie echten Raum, sondern viele Räume, die durch graphische Anschlüsse (graphic match cuts) miteinander verbunden sind. Stimmt der Anschluss, stimmt das 2-D-Bild, stimmt der filmische Raum, stimmt das Filmerlebnis.
Komplizierter ist es mit der Zeit. Der klassische Film strebte immer eine lineare, vorwärts gerichtete Zeit an. Das Konstrukt Rückblende galt es zu vermeiden. In den letzten Jahren ist in diesem Bereich aber viel Neues passiert, es wird rückwärts, unzuverlässig, multiperperspektivisch erzählt. Die Idee von Boyhood ist in dieser Hinsicht ganz simpel – und absolut überzeugend.