FILMTIPP #69: BOYHOOD VON RICHARD LINKLATER (USA 2015)

Bildquelle: Screenshot

Zweieinhalb Stunden nach Filmbeginn fährt der 18-jährige Mason (Ellar Col­tra­ne) mit seinem kleinen Pick-up nach Austin, Texas. Er will dort ein Stu­dium der Foto­grafie begin­nen. In den wenigen verbleibenden Minuten des Films lernt er sehr rasch neue, vielverspre­chen­de Leute kennen. Mason sieht einer guten Zeit entgegen. Diesen Schluss konnte der Regisseur und Autor Richard Linklater nicht unbedingt planen, als er zwölf Jahre vorher mit dem Buch und den Aufnahmen zu Boyhood begann.

Wie der Ti­tel andeutet, geht es um eine mehr oder weniger prototypische Kind­heit, Ju­gend und beginnendes Erwachsensein eines männ­li­chen ameri­ka­ni­schen In­di­vi­duums. Mason hat eine etwas extrovertierte Schwester, Saman­tha (Lo­relei Link­la­ter), dazu die al­lein­er­zie­hende Mutter und den leiblichen Vater, den er re­gel­mä­ßig sieht. Boy­hood schildert berührend die Entwick­lung einer Patch­work­fami­lie in den Verei­nigten Staaten von Amerika zu Beginn des dritten Jahrtausends.

Einzigartig ist die Produktionsgeschichte, die bedingend in die Erzählung einging: Linklater versammelte sein Team über die Zeitspanne von 2002 bis 2014 alljähr­lich ein paar Tage und nahm sich dabei jeweils einen neuen Abschnitt vor. Immer ist Sommer. Mit Ka­piteln oder Ab- und Aufblen­den hilft einem der Film nicht. Dass sehr viel Zeit ver­ge­ht, ist vor allem am Älter­werden Masons und Sa­man­thas ab­zulesen. Eine solche Ju­gend hat es in sich, vom leicht pausbäckigem Jun­gen, der Bonan­za­rad fährt und gleich zu Beginn nicht einmal von seinem Freund Ab­schied neh­men darf, weil die Mut­ter zum x-ten Mal hastig um­zieht, über den Tee­na­ger, der seine Grund­si­cher­heit tat­säch­lich nie ver­liert, bis zum schlaksigen freshman, bei uns: Erstsemester.

Linklater pflegte einen im Prinzip dokumentarischen Ansatz, wie man ihn aus ech­ten filmischen Langzeitbeobachtungen kennt. Dieser Ansatz kollidiert wun­der­sa­merweise nicht mit den fiktionalen Elementen, die hinzu kommen. Die Misch­form hätte aus vielerlei Gründen scheitern können, etwa am man­geln­den schau­spie­le­ri­schen Talent der jungen Protagonisten. Aber Mason bleibt immer bei sich, wird (oder ist?) ein eher zurückhaltender Mensch, der im richtigen Moment eine eige­ne Meinung entwickelt und auch einmal einen Schalter umlegen kann. Zusam­men mit Sa­man­tha nimmt er eine glaubhafte Entwicklung, wohl auch, weil bei­de Ak­teure ihren eigenen Charakter am Set nicht kaschieren mussten. Eine spür­bare an­dere Qualität bringen die beiden Profis ein, die sich behutsam – wie gute Eltern eben – auf ihre beiden Film­kinder einließen. Mason sr. (Ethan Hawke) ist deutlich zu jung Vater gewor­den; er weiss das selbst. Im Lauf der Jah­re wächst er in eine Rol­le hi­nein, die ein gelingendes Leben bedeuten könnte. Irgend­wann über­nimmt er auch als Vater neue Verantwortung. Für Mason jr. bleibt er über die Jahre ver­läss­lich, auch wenn der am Ende den geliebten Pontiac GTO nicht erben wird. Das emotio­na­le, da­mit krisennahere Zentrum des Geschehens ist Olivia (Patricia Ar­quette). Die junge Zweifach-Mutter kämpft sich zur engagierten Col­lege-Do­zentin durch. Mit Män­nern hat sie weiter kein Glück. Gerne wissen würde ich, ob Ar­quette für die weni­gen Dreh­tage vor­sätzlich Kilos zu­ge­legt hat, wie das SchauspielerInnen manchmal auferlegt wird. Auf alle Fälle erscheint “natür­lich”, dass ein Men­sch in seinen mitt­leren Jah­ren rundlicher wird.

Boyhood vertritt den Widerspruch eines natürlichen Konstrukts: Unter Zu­hilfen­nah­me äußerst elliptischen Erzählens erlebt man eine orga­nische Ge­schich­te, die als “Strom des Lebens” daherkommt. Interessant ist, wie wir Zuschauer auf die an diesem Film besonders evident werdende Dynamisie­rung des Raums und Ver­räum­li­chung der Zeit reagieren, die der Theoretiker Pa­nofs­ky als gene­rel­les Merk­mal der Kunstform Film identifiziert hat. Was den Raum be­trifft, sind wir von dieser Kunst seit jeher große Sprünge ge­wöhnt – Stanley Kubrick ließ uns vom Menschenaffen ins be­wohnte Welt­all springen. Das heißt, wir se­hen fil­misch weni­ger den drei­di­mensionalen, wie echten Raum, son­dern viele Räu­me, die durch graphische Anschlüsse (gra­phic match cuts) mit­ein­an­der verbunden sind. Stimmt der Anschluss, stimmt das 2-D-Bild, stimmt der filmische Raum, stimmt das Filmerlebnis.

Komplizierter ist es mit der Zeit. Der klassische Film strebte immer ei­ne li­nea­re, vorwärts gerichtete Zeit an. Das Konstrukt Rückblende galt es zu ver­meiden. In den letzten Jahren ist in diesem Bereich aber viel Neues pas­siert, es wird rückwärts, unzuverlässig, multiper­perspektivisch er­zählt. Die Idee von Boyhood ist in dieser Hinsicht ganz simpel – und absolut über­zeugend.

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