“Die Geschichte der Medien ist eine Geschichte von Bildern, die gemacht werden zu dem Zweck, einer gewünschten Wirklichkeit nachzuhelfen.” Beat Wyss, Die Welt als T-Shirt. Köln 1997, S. 57.
Die Psychologin Elizabeth Loftus hat in diversen Experimenten zum menschlichen Gedächtnis nachgewiesen, wie leicht sich die menschliche Erinnerung manipulieren lässt. Sie pflanzte ihren Probanden durch geschicktes Nachfragen und Ergänzen Geschichten ein, die so nie stattgefunden hatten. Manche Testperson konnte im Nachhinein nicht zwischen Erlebtem und Erfundenem unterscheiden – für beides gab es Bilder in ihrem Kopf. Loftus dehnte ihre Forschungen auf Fernseh- und Kinoerlebnisse aus, und auch hier überschrieb eine gute Erfindung die gespeicherte Erinnerungen an reale Ereignisse. Danach kann ein Biopic oder eine Serie über Prinzessin Diana unter bestimmten Umständen prägende Wirkung auf die Interpretation dessen haben, was einst tatsächlich passiert ist. “Wahrheit” scheint es im menschlichen Gedächtnis als Kategorie nicht zu geben, es geht eher um Sinn machende Neukombinationen aller neuronalen Eindrücke, die vorhanden sind.
Der filmische Prototyp eines derart “verbesserten” Ereignisses, zumal im kollektiven Gedächtnis einer ganzen Nation, istRoma città apertavon 1945. Roberto Rossellini drehte den Film direkt nach dem Einzug der amerikanischen Truppen in die Hauptstadt Italiens über deren Besatzung. Die Schicksale vieler “kleiner Leute” sind im Kampf gegen Nazis und opportune Faschischen miteinander verwoben. Der Regisseur modellierte seine PatriotenInnen realen Personen nach und ließ viel Authentisches einfließen, zumal er am Set improvisieren musste. Aber es gibt auch das Melodram, schöne, “gefallene” Frauen sowie Kinder, die den Krieg nachspielen, auch Situationskomik und eine Actionsequenz, die einem den Atem raubt. So entstand eine nie zuvor erfahrene Mixtur aus Überliefertem und Erfundenem, ein neuer Realismus aus alten Kinomechanismen. Diese Mischung tat ihre Wirkung. Der Film hatte in Frankreich, den USA und erst dann auch in Italien größten Erfolg und gilt als Klassiker des Neorealismus.
Zusammen mit seinem Nachfolger, dem Episodenfilm Paisà(1946), schuf Rossellini einen nationalen Mythos, wie er im Kino ähnlich allenfalls noch zu den Revolutionen der Sowjetunion und Frankreichs entwickelt wurde. Paisà zeichnet einen langen Weg von Süden nach Norden nach, das schmerzhafte und verlustreiche Einig-Werden einer Nation im Verlauf eines Krieges. Die großen Straßen italienischer Städte sind heute fast ausschließlich nach dieser und jener anderen großen Mission benannt, die zur ersten Vereinigung als Nation geführt hatte: Garibaldis Zug mit seinen Mille, den 1000 Gefolgsleuten, von Sizilien aus in den Norden. Andererseits sind immer noch, hier in einem kleinen Dorf im tiefen Süden, öffentliche Verlautbarungen des Duce möglich, der hier vom Durchhalten bis zum bitteren Ende spricht (s. Abb.).
Wie ist das möglich? Warum ist die italienische Erinnerungskultur so anders als die unsere, die niemals ein Hitler-Graffito zulassen würde, in der über Hakenkreuze, die auf abseitigen Kirchenglocken die Zeiten überlebt haben, erbittert debattiert wird? Schon die Politiker beider Länder sind schwer vergleichbar, ebenso ihr Wirken. Mein These darüber hinaus ist, dass die künstlerische Aufarbeitung in Italien um so vieles qualitätvoller war; man glaubt, man vertraut diesen Filmen einfach mehr. Die zurückbehaltenen Eindrücke im Gehirn wirken stark.
Und es lohnt sich, wie bei jedem großen Kunstwerk, genauer hinzusehen. Roma città aperta kam 1949 erstmals nach Deutschland, begleitet von massiven Protesten aus der Politik, die Rossellini Deutschenhass zum Vorwurf machten. Der Film wurde von der FSK geprüft, kam nicht in den Verleih und hatte seine Premiere hierzulande erst 1960. Noch heute kursieren Fassungen, die um einiges kürzer sind als das Original. 1960 wurden vier Minuten mit Folterszenen herausgenommen, in denen aus einem Widerstandskämpfer Geheimnisse herausgepresst werden sollen. Man sieht Flammenwerfer, Peitschen, Flagellantenwerkzeug sowie Nägel und Zangen, angewendet am menschlichen Körper: die Ikonographie des christlichen Märtyriums.
Auch die Gegenseite bekam solche Übertragungen zu spüren. Die Darstellerin einer italienischen Verräterin soll öffentlich bespuckt worden sein. Der intellektuell reflektierte Bernardo Bertolucci besetzte sie in seinem ebenfalls epochalen L’ Ultimo Tango a Parigials die weinerliche Schwiegermutter Marlon Brandos. Eine dauerhafte Markierung erhielt Giovanna Galetti, eine weitere Italienerin, die in Roma città aperta die gefühlskalte Geliebte des SS-Kommandanten von Rom ist. Die Schauspielerin erhielt fortan fast nur noch Schurkenrollen. Im Letzten Tango mimt sie eine heruntergekommene Prostituierte.