FILMTIPP #71: ES GILT DAS GESPROCHENE WORT VON ILKER ҪATAK (D 2019).

Bildquelle: Verleih

Eine Beziehungsgeschichte der eigenen Art, das wird schon mit den ersten Bil­dern klar: Baran (Arman Uslu), ein schmächtiger junger Türke, ist mit der äl­teren, tough wirkenden Marion (Anne Ratte-Polle) auf dem Standesamt. Es geht hamburgisch nüchtern zu. Die Beamtin, die nebenbei gleich zu Beginn den sper­ri­gen Filmtitel auflöst, muss die beiden Eheleute zur “entspre­chen­den zwi­schen­mensch­lichen Geste”, den Kuss, geradezu überreden. Eine Zweck­heirat.

Bis der Film diesen Moment ein zweites Mal erreicht, vergehen 50 Minuten. Im ersten Teil wird, unter der Kapitelüberschrift “Präteritum – Ich war”, die Vorge­schich­te der bei­den Ehe-Aspiranten erzählt. Baran, 23, hat den tür­ki­schen Mi­litär­dienst absolviert. Er kommt in Marmaris an, einer Touristen­hoch­burg der Ägäis auf der Halbinsel Bozburun. Der Regisseur des Films hat seine Ju­gend dort ver­bracht, seine Großeltern betrieben ein Hotel. Ilker Ҫatak kennt das Mi­lieu, in das Baran nun gerät, die Karaoke-Bars, den Ex­zess, die Ani­ma­teure und Gigolos, den Sex, den sich ältere Touristinnen hier kaufen.

Unter diesen Vorzeichen lernen sich Baran und Marion kennen. Er baggert sie an, weil er unbedingt raus will. Baran deutet an, dass er dafür vieles tun, nicht zuletzt auch sein Land verlassen würde. So deutlich die Motivation ist, die den Plot von Barans Seite aus in Gang setzt, so kompliziert ist Ma­rions Antrieb, dem jungen Mann dann tatsächlich zu helfen. Diese Frau, im Job als Pilotin erfolgreich, ist in einer Sackgasse des Lebens angekommen. Die Lie­bes­beziehung zu dem verheirateten Raphael (Godehard Giese), mit dem sie in der Türkei urlaubt, erweist sich als nicht tragfähig gegenüber der Heraus­forderung, die Marion jüngst ereilt hat: Sie hat Brustkrebs und wird bald ope­riert. Im augenblicklichen Chaos ihrer Gedanken und Gefühle trifft sie die einzige klare Entscheidung, zu der sie in diesem Moment imstande ist. Sie wird Baran helfen. Marion spricht nicht einen Moment lang darüber, was ge­nau sie dazu veranlasst. Man könnte ihr Menschenfreundlichkeit un­ter­stellen, wäre sie nicht so etwas wie der Prototyp der coolen, zielbestimm­ten Ent­schei­d­erin, der Karrierefrau ausschließlich mit Gefühlen, die auf Knopf­druck auszu­blen­den sind. Ein einziger Satz wird zu dem Motto, mit dem sie Barans Leben in Deutschland einrichtet: “You can do better than that.”

Und Baran macht es erstaunlich gut in Hamburg. Er lebt sich in der von Marion eingerichteten Wohnung ein, er beginnt einen Job auf dem Rollfeld des Flug­hafens. Vor allem hält er allen Herausforderungen stand, die ihm das fremde Land, die neue Sprache und nicht zuletzt – die Ehe abfordern.

Der zweite Teil des Films, wieder ein eigenes Kapitel mit der Überschrift “Prä­sensDu bist” handelt von der gegenseitigen Annäherung, die sich die bei­den Pro­tagonisten hart erarbeiten müssen. Denn natürlich geht nichts glatt in den Assimilationprozessen, die Baran durchlaufen muss; die er durch­lau­fen will, ohne sich zu verbiegen. Seine Fortschritte im Deutschen sind im­mens und sorgen bisweilen für Komik; erstaunlich und mutig, dass der Dar­steller ohne ein Wort Deutsch zu den Dreharbeiten angetreten war und auch die Türkei noch nie verlassen, geschweige denn schon einmal geschauspielert hatte.

Wenn man Es gilt das ge­spro­chene Wort aber nur eine einzige Tugend attestieren sollte, wäre es die Nachhaltigkeit seiner Charakterzeichnung; das hat noch nichts mit Schau­spie­lerleistungen zu tun, sondern ist eine Qualität des Drehbuchs. Diese Qua­lität ist sehr selten im deutschen Kino; man kann sie nicht hoch genug loben. Wenn man dann noch erlebt, wie Arman Uslu früh im Film die Frage Are you disco” euphorisch bejaht und Anne Ratte-Polle die Gegenfrage mit “Am I disco?” sowie ihrem Gesichtsausdruck beantwortet, versteht man, dass Kom­mu­nikation aus so viel mehr als Worten besteht, speziell im Kino, das eine Kunst des Bildes ist, dem die Worte im überzeugenden Fall immer untergeordnet bleiben.

Der Schlussteil unter dem Motto “Futur – Wir werden sein” deutet zart ein Gelingen des Versuches an. Ob dem so ist, mag jeder Zu­schauer selbst ent­scheiden. Diskussionsstoff deutete das Endbild an, das Marion in schwan­ge­rem Zustand in der Wartezone eines Flughafens zeigt. Die Filmfreunde haben Es gilt das gesprochene Wort an zwei Tagen hintereinander in der Kelter­hal­le eines Weinguts gezeigt. Unsere Gäste diskutierten den Film inten­siv, angespornt nicht zuletzt durch eine einführende Diskussion mit einer Fach­frau für morali­sche Fragen im Kino. Es war span­nend zu erfahren, wie di­vers, jedoch unisono zustimmend unser Publikum auf eine erwachsene “Lie­besge­schich­te” reagierte, der skur­rile Einschläge nicht fehlen und die sich von der Renaissance süßlicher Ro­manzen auf allen Kanälen abhebt wie ein Leucht­turm vom seichten Meer. Und noch dazu mit Schuberts “Leise flehen deine Lieder” endet.

 

 

 

 

 

 

 

 

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