Eine Beziehungsgeschichte der eigenen Art, das wird schon mit den ersten Bildern klar: Baran (Arman Uslu), ein schmächtiger junger Türke, ist mit der älteren, tough wirkenden Marion (Anne Ratte-Polle) auf dem Standesamt. Es geht hamburgisch nüchtern zu. Die Beamtin, die nebenbei gleich zu Beginn den sperrigen Filmtitel auflöst, muss die beiden Eheleute zur “entsprechenden zwischenmenschlichen Geste”, den Kuss, geradezu überreden. Eine Zweckheirat.
Bis der Film diesen Moment ein zweites Mal erreicht, vergehen 50 Minuten. Im ersten Teil wird, unter der Kapitelüberschrift “Präteritum – Ich war”, die Vorgeschichte der beiden Ehe-Aspiranten erzählt. Baran, 23, hat den türkischen Militärdienst absolviert. Er kommt in Marmaris an, einer Touristenhochburg der Ägäis auf der Halbinsel Bozburun. Der Regisseur des Films hat seine Jugend dort verbracht, seine Großeltern betrieben ein Hotel. Ilker Ҫatak kennt das Milieu, in das Baran nun gerät, die Karaoke-Bars, den Exzess, die Animateure und Gigolos, den Sex, den sich ältere Touristinnen hier kaufen.
Unter diesen Vorzeichen lernen sich Baran und Marion kennen. Er baggert sie an, weil er unbedingt raus will. Baran deutet an, dass er dafür vieles tun, nicht zuletzt auch sein Land verlassen würde. So deutlich die Motivation ist, die den Plot von Barans Seite aus in Gang setzt, so kompliziert ist Marions Antrieb, dem jungen Mann dann tatsächlich zu helfen. Diese Frau, im Job als Pilotin erfolgreich, ist in einer Sackgasse des Lebens angekommen. Die Liebesbeziehung zu dem verheirateten Raphael (Godehard Giese), mit dem sie in der Türkei urlaubt, erweist sich als nicht tragfähig gegenüber der Herausforderung, die Marion jüngst ereilt hat: Sie hat Brustkrebs und wird bald operiert. Im augenblicklichen Chaos ihrer Gedanken und Gefühle trifft sie die einzige klare Entscheidung, zu der sie in diesem Moment imstande ist. Sie wird Baran helfen. Marion spricht nicht einen Moment lang darüber, was genau sie dazu veranlasst. Man könnte ihr Menschenfreundlichkeit unterstellen, wäre sie nicht so etwas wie der Prototyp der coolen, zielbestimmten Entscheiderin, der Karrierefrau ausschließlich mit Gefühlen, die auf Knopfdruck auszublenden sind. Ein einziger Satz wird zu dem Motto, mit dem sie Barans Leben in Deutschland einrichtet: “You can do better than that.”
Und Baran macht es erstaunlich gut in Hamburg. Er lebt sich in der von Marion eingerichteten Wohnung ein, er beginnt einen Job auf dem Rollfeld des Flughafens. Vor allem hält er allen Herausforderungen stand, die ihm das fremde Land, die neue Sprache und nicht zuletzt – die Ehe abfordern.
Der zweite Teil des Films, wieder ein eigenes Kapitel mit der Überschrift “Präsens – Du bist” handelt von der gegenseitigen Annäherung, die sich die beiden Protagonisten hart erarbeiten müssen. Denn natürlich geht nichts glatt in den Assimilationprozessen, die Baran durchlaufen muss; die er durchlaufen will, ohne sich zu verbiegen. Seine Fortschritte im Deutschen sind immens und sorgen bisweilen für Komik; erstaunlich und mutig, dass der Darsteller ohne ein Wort Deutsch zu den Dreharbeiten angetreten war und auch die Türkei noch nie verlassen, geschweige denn schon einmal geschauspielert hatte.
Wenn man Es gilt das gesprochene Wort aber nur eine einzige Tugend attestieren sollte, wäre es die Nachhaltigkeit seiner Charakterzeichnung; das hat noch nichts mit Schauspielerleistungen zu tun, sondern ist eine Qualität des Drehbuchs. Diese Qualität ist sehr selten im deutschen Kino; man kann sie nicht hoch genug loben. Wenn man dann noch erlebt, wie Arman Uslu früh im Film die Frage “Are you disco” euphorisch bejaht und Anne Ratte-Polle die Gegenfrage mit “Am I disco?” sowie ihrem Gesichtsausdruck beantwortet, versteht man, dass Kommunikation aus so viel mehr als Worten besteht, speziell im Kino, das eine Kunst des Bildes ist, dem die Worte im überzeugenden Fall immer untergeordnet bleiben.
Der Schlussteil unter dem Motto “Futur – Wir werden sein” deutet zart ein Gelingen des Versuches an. Ob dem so ist, mag jeder Zuschauer selbst entscheiden. Diskussionsstoff deutete das Endbild an, das Marion in schwangerem Zustand in der Wartezone eines Flughafens zeigt. Die Filmfreunde haben Es gilt das gesprochene Wort an zwei Tagen hintereinander in der Kelterhalle eines Weinguts gezeigt. Unsere Gäste diskutierten den Film intensiv, angespornt nicht zuletzt durch eine einführende Diskussion mit einer Fachfrau für moralische Fragen im Kino. Es war spannend zu erfahren, wie divers, jedoch unisono zustimmend unser Publikum auf eine erwachsene “Liebesgeschichte” reagierte, der skurrile Einschläge nicht fehlen und die sich von der Renaissance süßlicher Romanzen auf allen Kanälen abhebt wie ein Leuchtturm vom seichten Meer. Und noch dazu mit Schuberts “Leise flehen deine Lieder” endet.