Wenn das Gespräch auf Western kommt, wird dieser Film oft als einer der ersten genannt; dabei steht er ganz am Rande, wenn nicht außerhalb: ein Western ohne die Girlanden, die das pittoreske Genre sonst gerne schmücken. Es fehlen Indianer in Kriegsbemalung, spektakuläre Landschaften, unüberschaubar große Büffel- oder Rinderherden, überdrehte Ritte zu Pferd. Nur der Shoot-out ist noch da und mit ihm die staatspolitische Essenz des Western: Wie kann ein Mann sich selbst helfen, wenn der Staat, die Gemeinschaft aller zu schwach ist, um Gerechtigkeit für alle zu schaffen?
Mir fällt dazu reflexartig ein einstiger Latein- und Ethiklehrer ein, der Kants Kategorischen Imperativ wiederholt an diesem überraschenden Beispiel erklärte. Im bayrischen Schulsystem, das zur Erklärung, konnte man Ethik statt Religion wählen; in unserer protestantischen Randlage ging der Unterschied gen Null. Dem gemeißelten Durchhalteblick Gary Coopers war nun wohl eine Haltung zu entnehmen, die viele Männer, nicht nur dieser Lehrer, aus der Erfahrung des Krieges für sich entwickelt hatten: Weder vom Staat noch von der Kirche, aus sich heraus, vom eigenen Gewissen her mussten die Werte kommen. Was richtig und gerecht war, hatte man am Ende selbst zu entscheiden. Dazu hieß es dann zu stehen, komme beinahe, was wolle.
High Noon macht einem die moralische Entscheidung leicht. Den Verlauf des Films bestimmen hingegen zwei strukturelle Elemente, die dann auch für Emotionen sorgen: die Musik und die Darstellung von Zeit.
Untermalt von lokomotivartigem Vorwärtsdrang der Rhythmussektion singt Tex Ritter zu Beginn den berühmten Song Dimitri Tiomkins, Do not forsake me oh my Darling / On this our wedding day. Dazu sieht man drei Männer, darunter die eindrucksvoll finstere Miene Lee van Cleefs, die sich versammelt haben, aber zusammen noch auf etwas warten. Damit ist die Spannung des Films gesetzt: Gut gegen schlecht, Überzahl gegen einen, der verzweifelt um die letzte Hilfe bittet, die ihm noch bleibt: Verlass mich nicht, mein Liebling, ausgerechnet heute, am Tag unserer Hochzeit.
Ein Kirchenglocke ertönt, nun sehen wir das Brautpaar, den zu diesem Zeitpunkt 50-jährigen Gary Cooper und die 22-jährige Grace Kelly, vor dem Friedensrichter beim Jawort: Ein ungleiches Paar, zumal Amy aus einer Quäkerfamilie kommt und jegliche Gewalt und damit auch das Tun ihres Mannes eigentlich ablehnt. Dass sie diese Verpflichtung später bricht, wird sie noch enger an ihrem Ehemann binden. Gemeinsam erstarkt, werden sie am Ende die Stadt und deren faule Ordnung verlassen.
Der Score Tiomkins, also die orchestrale Begleitung, unterliegt den Bildern fast die Hälfte der Zeit; er nimmt jedes Mal Takt und Melodie in irgendeiner Weise auf. Er ist ein Leitmotiv und hier elementar, weil er eine symbolische Funktion übernimmt. Die Musik übersetzt die ideelle Substanz in Gefühle und schafft den Teppich, auf dem die Gestimmtheiten des Films beruhen, die jede/r nachvollziehen kann: Einsamkeit und die Suche nach Hilfe.
Die zentrale Botschaft ist aber die Pflicht zur Pflichterfüllung. Das betrifft die Funktion des Marshalls – das Aufrechterhalten der Ordnung – und das Gelöbnis der Ehefrau, dem Mann zur Seite zu stehen. Nicht alle, im Grunde keiner der wehrhaften Bürger von Headleyville denkt genauso; so wird der Film zu einem moral tale, das die Kritik gern in die Nähe des House of Un-American Activities gerückt hat, die Kommunistenhatz in Hollywood, die Anfang der 50er ihren Höhepunkt erreichte. Man kann in diesem Film tatsächlich noch andere übergeordnete Fragen diskutiert finden: Staat vs. Individuum, Gewaltenteilung, Gewaltbereitschaft, Zivilcourage, Loyalität und Familiensinn.
Und doch bleibt der Film ein Film und wirkt nicht wie eine trockene Lektion. Zur Melodie kommt der äußere Rhythmus. Erstmals sieht man auf eine Uhr um 10:40 Uhr, dann um 10:50, 10:53, 11:03, 11:05, 11:07, 11:10, 11:15, 11:18 und immer so fort. Auch die Zeit dient zur Orchestrierung der Emotion.
Fred Zinnemann war Moralist in all seinen Filmen. Dazu deutet er in seiner Autobiografie lapidar an, dass seine jüdischen Eltern two of six millions gewesen seien. Seine europäische Herkunft konnte er nie leugnen. Früh in High Noon erzählt der Friedensrichter ein Gleichnis über korrupte Bürger in der idealen Polis, dem alten Athen. Zinneman sprach diese Erinnerung wohl aus dem Herzen. Ein “echter Amerikaner” hätte einen anderen Film gemacht.