FILMTIPP #79: FILMISCH ENTSCHLEUNIGEN. GHOSTLAND VON SIMON STADLER UND CATENIA LERNER (D 2016). UND: WEIT. DIE GESCHICHTE VON EINEM WEG UM DIE WELT VON GWENDOLIN WEISSER UND PATRICK ALLGEIER (D 2017).

Foto: Geo/Screenshot.

Die Frank­furter Filmemacher Simon Stadler und Catenia Lerner sind gelernte Ethno­lo­gen. Heute machen sie Auftragsfilme und leben davon. Für Ghost­land kehrten sie zu ihrem Studienfach zurück und lebten mehrere Wo­chen mit den Ju’Hoansi, einem Volk in der Steppe Namibias, das 30.000 Jah­re un­ver­ändert als Jäger und Sammler exi­stierte, ehe die Regierung Namibias das Jagen verbot. Seitdem sind die Ju’Hoansi auf Touristen angewiesen, die viele tausend Kilometer anreisen, um einmal richtig ursprüngliches Leben zu erleben.

Es ist zu vermuten, das die beiden Filmemacher ein Anliegen haben. Aber wel­ches? Ohne dass darüber gesprochen wird, macht der zweite Teil des Films alles klar – wenn das Team Namibia ver­lässt, um zusammen mit vier Ju’Hoansi nach Deutschland zu reisen. Die vier Buschleute, zwei Frauen, zwei Männer, sind noch nie ge­flogen, ihnen sind Rolltreppen unbe­kannt und sie haben auch noch keinen Elek­tronik­markt von innen gesehen. Eine Kuh auf der Weide kommt ihnen hin­gegen bekannt vor. Die würden sie gerne jagen und erlegen.

Die Reaktionen der Ju’Hoansi auf unsere Welt halten unserer Konsumwelt den Spie­gel vor. Die Kom­mentare zu Nutzen & Not­wen­dig­keit all der kulturellen und technischen Er­run­genschaften lassen einen durchaus nachdenken, wozu etwas gut ist und was davon wirklich gebraucht wird. Im Rück­blick tauchte die Frage schon am Anfang auf, als die Ju’Ho­an­si auf eine Touristengruppe aus Deutschland war­te­ten, vom Geldver­die­nen spra­chen, Perlenketten auslegten und für Fotos posierten. Was läuft hier verkehrt?

Ghostland ist ein dokumentarischer Film, der Fragen aufwirft. Er ist mit wenig Aufwand und kleinem Budget produziert – eine Tendenz, die sich heute auch im Spielfilm zeigt; der Oscar für Nomadland spricht eine deut­li­che Sprache. Das histo­rische Vorbild für diese Art von Produktion, daran sei hier erinnert, liegt im ita­lie­nischen Neorealismus, der nach dem Zweiten Welt­krieg das Filmemachen, wie man es aus Hollywood und vergleichbaren Sy­ste­men kannte, revolutionierte.

Dass die Budgets italienischer Filme nach 1944 vergleichsweise gering waren, ist ein wichtiges Kennzeichen, aber beileibe nicht das einzige, das neorealistisches Produzieren so aktuell macht. Filmemachen kann man heute mit sehr wenig Auf­wand: In diesem Filmtipp sprechen wir von Filmen, die von zwei Personen gemacht wurden. Auch anderes der neoreali­sti­schen Programmatik erscheint ziemlich aktuell:

• Verzicht auf die Konstruktion von erfundenen Geschichten, dafür Vertrauen in die Wirklichkeit, insbesondere die All­tagswirklichkeit, d.h. das Leben und die Erfahrungen einfacher Menschen.

• Ausgangspunkt der Filmarbeit sollen ,menschliche Fakten‘ sein, darin ein­ge­schlossen das in ihnen enthaltene Historische, Determinierende. Spekta­ku­lär sei das Normale, nicht das Außergewöhnliche.

• Das könne nur der dokumentarische und analytische Weg finden und zei­gen.

• In den Filmen sollen keine Helden vorkommen, sondern Menschen mit all­täg­lichen Schicksalen.

• Spielen sollten möglichst keine Berufsschauspieler, sondern Laien, die sich selbst darstellen.

• Die Aufnahmen seien an Originalschauplätzen zu machen.

• Betont werden sollte der Chronik-Charakter der Wirklich­keits­dar­stellung, damit auch das Dokumentarische, die Kollektivität und die Choralität von Handlungen mit der Echtheit sozialer Milieus und möglichst im Dia­lekt zur Geltung kommen.

(Nach Irmbert Schenk, Cinema Paradiso? Geschichte des Italienischen Films. Mar­burg 2020.)

Das alles waren, wohlgemerkt, Empfehlungen für den Spielfilm. Hu­ma­nität war ein Ziel, nicht unbedingt die große Rendite an der Kasse; damit geriet die Rolle des Pro­du­zen­ten in Schieflage. Die steuerten dann auch rasch dagegen.

Auf Erschütterungen der Tektonik gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse hat das Kino oft mit Geschichten reagiert, die Menschen in existenzieller Verän­de­rung zeigten. Dafür eignete sich das Motiv der Reise besonders gut. Das lässt sich wiederum an den 60er Jahren beobachten, im aufkommenden Genre des Road­mo­vies aus den USA. Hier ging es um individuelle Krisen, um Heimat- und Sinn­su­che, oft vor der Folie großartiger Landschaften und unter Begleitung wun­derbar neuer Musik. Das Genre hat sich bis heute gehalten und uns immer wieder schöne Filme aus Amerika gebracht (Thelma & Louise, Straight Story, About Schmidt, Broken Flowers u.a.). Spätestens seit Nomadland ist aber klar, dass der ameri­kanische Traum nunmehr endgültig kaputt ist, dass mit diesem Narrativ kei­ne Nation mehr beschworen werden kann, die an dieselben Werte glaubt, dass auch Solidarität un­ter Au­ßen­seitern nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Und nicht zuletzt, dass das Auto als Schlüssel zur Freiheit auf der Landstraße ausgedient haben dürfte; Into the Wild und Wild/Der große Trip zeigen bereits Sinnsucher, die zu Fuß un­terwegs sind – mit unterschiedlichem Ausgang. Besonders im letztgenannten Film war dann auch noch das Knacken jener Hollywood-Ambition zu spüren, die formalen Experimenten, zumal, wenn sie nach „nichts“ aussehen, immer erst einmal skeptisch gegenübersteht.

So könnte ein kleiner Film aus Deutschland einen Weg aufzeigen, wie Film ohne besonderes Budget gelebtes Leben dokumentieren kann und die Ergebnisse am Ende trotz aller Bescheidenheit nichts anderes als spektakulär zu nennen sind.

Für einen Film wie Weit. Geschichte von einem Weg um die Welt brauchte es die Idee, ein wenig technisches Verständnis, eine Wanderausrüstung für zwei und eine ganze Menge Mut. Ein junges Paar reist von Freiburg aus zu Fuß um die Welt, immer gen Osten: Sta­tio­nen sind der Balkan, Russland, der Iran, Pakistan, Indien, dann Latein­ame­rika. Zur Hälfte der Reise stellt sich ein Baby ein. Es kommt in der Kraxe mit. Begeg­nun­gen mit Menschen, die nie fremd erschei­nen, zeichnen diese Reise aus. Überall auf dieser Erde wird gear­beitet, ge­lit­ten, gesungen und gelacht. So verliert auch das Publikum nie den Kontakt zur Welt.

Beide Filme lassen miterleben, dass es in manchen Dingen des Lebens ange­raten sein könnte, auch mal auf die Bremse zu treten. Die Fahrt, die Reise, wird lang­samer. Doch am Ende kommen nicht nur die Handelnden auf der Leinwand ein ganzes Stück weiter.

Wie immer, suchten, wir als Filmfreunde auch für Weit das richtige Ambiente. Wir fanden es in der Turnhalle eines Sportvereins, der eine Wanderabteilung hat. Eine Gärtnerei verwandelte das improvisierte Kino mit einigen Pflanzkübeln in eine grüne Oase. Das half beim Entschleunigen.

Die Filmtipps machen nun ebenfalls eine Pause.

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