Die Frankfurter Filmemacher Simon Stadler und Catenia Lerner sind gelernte Ethnologen. Heute machen sie Auftragsfilme und leben davon. Für Ghostland kehrten sie zu ihrem Studienfach zurück und lebten mehrere Wochen mit den Ju’Hoansi, einem Volk in der Steppe Namibias, das 30.000 Jahre unverändert als Jäger und Sammler existierte, ehe die Regierung Namibias das Jagen verbot. Seitdem sind die Ju’Hoansi auf Touristen angewiesen, die viele tausend Kilometer anreisen, um einmal richtig ursprüngliches Leben zu erleben.
Es ist zu vermuten, das die beiden Filmemacher ein Anliegen haben. Aber welches? Ohne dass darüber gesprochen wird, macht der zweite Teil des Films alles klar – wenn das Team Namibia verlässt, um zusammen mit vier Ju’Hoansi nach Deutschland zu reisen. Die vier Buschleute, zwei Frauen, zwei Männer, sind noch nie geflogen, ihnen sind Rolltreppen unbekannt und sie haben auch noch keinen Elektronikmarkt von innen gesehen. Eine Kuh auf der Weide kommt ihnen hingegen bekannt vor. Die würden sie gerne jagen und erlegen.
Die Reaktionen der Ju’Hoansi auf unsere Welt halten unserer Konsumwelt den Spiegel vor. Die Kommentare zu Nutzen & Notwendigkeit all der kulturellen und technischen Errungenschaften lassen einen durchaus nachdenken, wozu etwas gut ist und was davon wirklich gebraucht wird. Im Rückblick tauchte die Frage schon am Anfang auf, als die Ju’Hoansi auf eine Touristengruppe aus Deutschland warteten, vom Geldverdienen sprachen, Perlenketten auslegten und für Fotos posierten. Was läuft hier verkehrt?
Ghostland ist ein dokumentarischer Film, der Fragen aufwirft. Er ist mit wenig Aufwand und kleinem Budget produziert – eine Tendenz, die sich heute auch im Spielfilm zeigt; der Oscar für Nomadland spricht eine deutliche Sprache. Das historische Vorbild für diese Art von Produktion, daran sei hier erinnert, liegt im italienischen Neorealismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg das Filmemachen, wie man es aus Hollywood und vergleichbaren Systemen kannte, revolutionierte.
Dass die Budgets italienischer Filme nach 1944 vergleichsweise gering waren, ist ein wichtiges Kennzeichen, aber beileibe nicht das einzige, das neorealistisches Produzieren so aktuell macht. Filmemachen kann man heute mit sehr wenig Aufwand: In diesem Filmtipp sprechen wir von Filmen, die von zwei Personen gemacht wurden. Auch anderes der neorealistischen Programmatik erscheint ziemlich aktuell:
• Verzicht auf die Konstruktion von erfundenen Geschichten, dafür Vertrauen in die Wirklichkeit, insbesondere die Alltagswirklichkeit, d.h. das Leben und die Erfahrungen einfacher Menschen.
• Ausgangspunkt der Filmarbeit sollen ,menschliche Fakten‘ sein, darin eingeschlossen das in ihnen enthaltene Historische, Determinierende. Spektakulär sei das Normale, nicht das Außergewöhnliche.
• Das könne nur der dokumentarische und analytische Weg finden und zeigen.
• In den Filmen sollen keine Helden vorkommen, sondern Menschen mit alltäglichen Schicksalen.
• Spielen sollten möglichst keine Berufsschauspieler, sondern Laien, die sich selbst darstellen.
• Die Aufnahmen seien an Originalschauplätzen zu machen.
• Betont werden sollte der Chronik-Charakter der Wirklichkeitsdarstellung, damit auch das Dokumentarische, die Kollektivität und die Choralität von Handlungen mit der Echtheit sozialer Milieus und möglichst im Dialekt zur Geltung kommen.
(Nach Irmbert Schenk, Cinema Paradiso? Geschichte des Italienischen Films. Marburg 2020.)
Das alles waren, wohlgemerkt, Empfehlungen für den Spielfilm. Humanität war ein Ziel, nicht unbedingt die große Rendite an der Kasse; damit geriet die Rolle des Produzenten in Schieflage. Die steuerten dann auch rasch dagegen.
Auf Erschütterungen der Tektonik gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse hat das Kino oft mit Geschichten reagiert, die Menschen in existenzieller Veränderung zeigten. Dafür eignete sich das Motiv der Reise besonders gut. Das lässt sich wiederum an den 60er Jahren beobachten, im aufkommenden Genre des Roadmovies aus den USA. Hier ging es um individuelle Krisen, um Heimat- und Sinnsuche, oft vor der Folie großartiger Landschaften und unter Begleitung wunderbar neuer Musik. Das Genre hat sich bis heute gehalten und uns immer wieder schöne Filme aus Amerika gebracht (Thelma & Louise, Straight Story, About Schmidt, Broken Flowers u.a.). Spätestens seit Nomadland ist aber klar, dass der amerikanische Traum nunmehr endgültig kaputt ist, dass mit diesem Narrativ keine Nation mehr beschworen werden kann, die an dieselben Werte glaubt, dass auch Solidarität unter Außenseitern nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Und nicht zuletzt, dass das Auto als Schlüssel zur Freiheit auf der Landstraße ausgedient haben dürfte; Into the Wild und Wild/Der große Trip zeigen bereits Sinnsucher, die zu Fuß unterwegs sind – mit unterschiedlichem Ausgang. Besonders im letztgenannten Film war dann auch noch das Knacken jener Hollywood-Ambition zu spüren, die formalen Experimenten, zumal, wenn sie nach „nichts“ aussehen, immer erst einmal skeptisch gegenübersteht.
So könnte ein kleiner Film aus Deutschland einen Weg aufzeigen, wie Film ohne besonderes Budget gelebtes Leben dokumentieren kann und die Ergebnisse am Ende trotz aller Bescheidenheit nichts anderes als spektakulär zu nennen sind.
Für einen Film wie Weit. Geschichte von einem Weg um die Welt brauchte es die Idee, ein wenig technisches Verständnis, eine Wanderausrüstung für zwei und eine ganze Menge Mut. Ein junges Paar reist von Freiburg aus zu Fuß um die Welt, immer gen Osten: Stationen sind der Balkan, Russland, der Iran, Pakistan, Indien, dann Lateinamerika. Zur Hälfte der Reise stellt sich ein Baby ein. Es kommt in der Kraxe mit. Begegnungen mit Menschen, die nie fremd erscheinen, zeichnen diese Reise aus. Überall auf dieser Erde wird gearbeitet, gelitten, gesungen und gelacht. So verliert auch das Publikum nie den Kontakt zur Welt.
Beide Filme lassen miterleben, dass es in manchen Dingen des Lebens angeraten sein könnte, auch mal auf die Bremse zu treten. Die Fahrt, die Reise, wird langsamer. Doch am Ende kommen nicht nur die Handelnden auf der Leinwand ein ganzes Stück weiter.
Wie immer, suchten, wir als Filmfreunde auch für Weit das richtige Ambiente. Wir fanden es in der Turnhalle eines Sportvereins, der eine Wanderabteilung hat. Eine Gärtnerei verwandelte das improvisierte Kino mit einigen Pflanzkübeln in eine grüne Oase. Das half beim Entschleunigen.
Die Filmtipps machen nun ebenfalls eine Pause.