Auf dem Höhepunkt von Parasite (2019) wechselt Regisseur Bong Joon-Ho zweimal das Genre. Es gibt eine Geburtstagsparty für den verwöhnten Sohn der reichen Familie Park. Vater & Chauffeur haben sich als Indianer verkleidet, um der jungen Kunstlehrerin des Sohnes die Geburtstagstorte zu rauben. Der Junge, ein Indianerfan, soll seine Lehrerin heldenhaft „retten“. Der Ausflug in den Western ist Spiel, Finte, Exkurs. Denn das Spiel wird beendet durch einen Mann, der seit vier Jahren heimlich im Bunker unter dem Haus lebt, klandestin versorgt von seiner Frau, der Haushälterin der Familie. Die hat er soeben tot aufgefunden. Wie ein Rachegeist taucht dieser Mann aus der Unterwelt auf, blutverschmiert und mit einem Küchenmesser in der Hand.
Die Passage von der Komödie zur Western-Parodie zum Slasherfilm steht für die Eskalation der Farce, die uns bis zu diesem Punkt glänzend unterhalten hat. Das Doppelspiel ist zu Ende, das die arme Familie mit den Reichen spielte: Auf der einen Seite waren das alles brave Angestellte – Chauffeur, Haushälterin, NachhilfelehrerIn. Andererseits agierte die arme Familie die ganze Zeit als kriminelle Bande: Man intrigierte heimlich gemeinsam, hatte sich schon jeden einzelnen der Jobs durch Tricks oder Lügen erschlichen. Wie so oft in Filmen aus Südkorea gerät die Eskalation dann außerordentlich blutig.
Parasite war der bislang mit Abstand größte Publikumserfolg des südkoreanischen Kinos im Westen, gekrönt durch den ersten Oscar für einen nicht-amerikanischen Film als Bester Film. Er war für alle Generationen von Erwachsenen vergnüglich, während Oldboy (Park Chan-wook, 2003) einen vergleichbaren Erfolg bei Jüngeren aufweisen kann. Ein Mann wird 15 Jahre gefangen gehalten, ohne dass er den Grund kennt; als er endlich wieder frei ist, entfaltet sich die wendungsreiche Fortsetzung mit Bezug auf Motive wie Rache und Ehre, Schuld und Inzest, die nicht leicht nachzuerzählen wäre. Jedes Motiv ist einzeln anzusehen und macht als Reaktion auf das zurückliegende Sinn; der Plot funktioniert als Häufung bizarrer, blutiger, provokativer Episoden. Die Story taugt als Mutprobe, wie weit man sich in die Tiefen einer für uns exotischen, sozialen Unordnung begeben möchte.
Ruhigere Filme für Erwachsene hat Kim Ki-Duk gemacht, der Ende 2020 ein prominentes Opfer der weltweiten Covid 19-Pandemie geworden ist. Aus einer Fülle von Beispielen – das heißt, aus etwas einem Dutzend Filmen – wähle ich Samaria (2004), den man vielleicht am besten vom Ende her erzählt: Einem Polizisten, gelingt es, die Ehre seiner Tochter wiederherzustellen, bevor er sich seinen Kollegen stellt. Er hatte einen Freier des etwa 15-jährigen Mädchens zu Hause aufgesucht, diesen vor seiner Familie mit seiner Tat konfrontiert und ihn zum mittelbar darauf folgenden Suizid gezwungen. Die Tochter hatte nicht aus freien Stücken oder Geldgier mit dem Mann, mit vielen Männern geschlafen, sondern um ihre Freundin in symbolischen Akten wieder rein, un/schuldig, das heißt wieder frei von Schuld zu machen (daher der Titel des Films, der auf eine barmherzige Samariterin anspielt). Die Männer bekommen sogar ihr Geld zurück.
Es ist wichtig, dass die beiden Freundinnen zu Beginn fast noch Kinder sind, die sich den Traum erfüllen wollen, gemeinsam nach Europa zu fahren. Dafür entwickeln sie ihr Geschäftsmodell: Die eine spielt die Managerin, während die andere sich an Männer verkauft. Prostitution geschieht hier „im Stande der Unschuld“. Nicht als klassische Freier, sondern als durchaus nahbar werden auch die (nicht nur Sex suchenden) Männer behandelt. Es geht, wie oft im asiatischen Kino, um die Kollision von Werten, die von Individuen unterschiedlich gewichtet werden; störend wirkt dabei vor allem die Polizei, die das ungesetzliche Treiben beenden will. In Folge der Flucht aus einem angemieteten Zimmer kommt das sich prostituierende Mädchen ums Leben.
Koreanische Filme gefallen deutschen ZuschauerInnen möglicherweise, weil ihnen ein zentrales Motiv abgeht, der entschiedene Abschied von der „ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts“ (Schiller) durch die Schönheit der Kunst, die sich bei weniger forschen Aufklärern zu einem Kodex entwickelt hat, der sich mit Provokationen, Grenzüberschreitungen, moralischen Ambivalenzen nicht beschäftigt. Der Schein hat der Idee des Guten zu dienen und nicht umgekehrt. 200 Jahre Idealismus seit Kant, Hegel und Marx haben ihren Stempel hinterlassen und uns zu einem Volk gemacht, das seine höchsten Güter im demokratischen Konsens und in der Gewaltenteilung sieht. Schönheit, ästhetisches Gefallen ist bei uns immer mit einem dahinterlegenden Gesetz, mit sittlichem Verhalten im gemeinschaftlichen Sinn verbunden.
Unser ethischer Kodex erschwert ein Denken in Kategorien wie die von der Berechtigung einer moralisch getriebenen Rache. Die „Reinwaschung von Sünden“ übernehmen bei uns stellvertretend Staat oder Religion. Schon das biblische Gleichnis von der ehemaligen Sünderin Maria Magdalena, die zur Dienerin Christi wird, impliziert Reue und ein Besserungsversprechen, aber nicht das Vergeben der Sünden anderer; als persönliche Initiative ist solches Verhalten bei uns verpönt. Doch es ist das Recht und eine Chance des Kinos, gerade mittels uns ferner Kinematographien, solche Antriebe für ein soziales Zusammenleben zur Diskussion zu stellen, ohne sie zum Vorschlag zu machen.