Wer Filme mag, hat immer auch spezielle Lieblinge. Oft stammen Filme, die man besonders mag und “sein Leben lang” nicht vergisst, aus einer Zeit, als das Kino noch neu für einen war oder man erstmals ein paar Stunden der Woche vor dem Fernseher verbringen durfte: mit 11, 13 oder 16.
Sasha Stone war 10, als sie zusammen mit ihrer Schwester von der Hippie-Mutter vor einem Kino abgeladen wurde, mit Geld für Tickets und (selten) Popcorn. Man schrieb das Jahr 1975; der Ort war das San Fernando-Valley nahe Los Angeles, und der Film natürlich Jaws, zu deutsch Der weiße Hai. Geschätzte 40 Mal hat Sasha Stone Jaws damals gesehen, weil es möglich war, von der ersten bis zur letzten Vorstellung zu bleiben, während die Mutter laut Sashas Erinnerung mit dem neuesten Mann in ihrem Leben beschäftigt war. Wie die Erwachsene davon erzählt und wie das tiefsitzende Primärerleben von der Netflix-Serie ins Bild gesetzt wird – das prägte Generationen.
Die Mischung aus nachgestellten Bildern – die Mutter und ihr türkisfarbener VW-Käfer, die Situation mit dem jungen Angestellten in Uniform an der Kasse, das vom Widerschein der Leinwand erhellte Dunkel, zwei Mädchen mit offenen Mündern – und originalen Jaws-Ausschnitten mitsamt dem phantastisch schrillen John-Williams-Score stellt auf das Erleben ab, wie es jede/r nur einmal im Leben (oder eben einen Sommer lang) gehabt haben dürfte. Wird die These der Primärprägung bestätigt, lässt das wohl auch den Schluss zu, dass sich bei jedem Wiedersehen mit einem filmischen Liebling ein Teil der einst so starken Gefühle aufs Neue einstellt.
Auf dieses Prinzip baut die Serie Voir auf: Menschen, die Filme herstellen oder über Filme schreiben, denken über ein Objekt ihrer besonderen Zuneigung nach. Den ältesten Film hat der Kritiker Drew McWeeny ausgegraben. Doch er hat ein Problem: Er mag den Charakter T.E. Lawrence nicht, obwohl er Lawrence of Arabia (1962) liebt. McWeeny führt viele Argumente zu seiner Verteidigung, ja des Lobes auf; aber erst ein Schnitt auf ein Lawrence-Zitat in Full Metall Jacket lässt den Gedanken zu, dass jene Filmliebe nicht trotz, sondern wegen des Unholds entstanden ist. Dies eingestanden, eröffnet sich eine lange Reihe ähnlich faszinierender Unsympathen. Voll von ihnen ist unter anderem das Universum des Martin Scorsese: Travis Bickle in Taxi Driver, Jake LaMotta in Raging Bull, Robert Pupkin in King of Comedy, die Mobster in Casino – zu ergänzen Jordan Belfort in The Wolf of Wall Street.
Einen Unhold im moralischen Sinn hält auch Tony Zhou mit Lady Vengeance (2005) von Park Chan-Wook bereit (über das eigenartige Gerechtigkeitsverständnis südkoreanischer Filme s. Filmtipp 85). An Tony Zhous Einlassung fällt auf, wie sehr der Vater des erklärenden Filmessays (man sehe seine herausragende Reihe Every frame a Painting) hier bemüht ist, jeden vermeintlichen Stein des Anstoßes zu meiden, etwa in dem Hinweis, brutale Gewalt finde bei Park Chan-Wook stets außerhalb des Rahmens statt, im filmischen Off. Tony Zhou hat in der kleinen, aber innovativen Gattung Filmerklärender Film mit die eindrücklichsten Belege geliefert, unter anderem zu Buster Keaton, Edgar Wright oder zur außergewöhnlichen Qualität der Kamerarbeit bei David Fincher, der bei Voir als Co-Produzent aufgeführt wird. Und doch zeigt sich hier einmal mehr, dass es leichter ist, über Story und vermeintliche Botschaft von Filmen zu befinden als über die formale Gestaltung und damit am Ende über künstlerische Qualität.
Einige Schritte ins fast unergründliche Reich der Ästhetik führt der Beitrag des Animators Glen Keane: Die Dualität der Attraktivität spricht über Appeal und Harmonie, die jede Couleur von Charakteren attraktiv machten, selbst die Bösen: auch sie müssen verkauft werden, und zwar immer nach Zielgruppe. Man erfährt an dieser Stelle viel über das Handwerk und die Psychologie des Animationsfilms. Und doch ist ein Tunnelblick der Berufsgruppe zu bemerken: Die Gestaltgesetze sind ein alter, wenn auch immer passender Hut. Schönheit hingegen, so lehrt es jeder Kontakt mit ihr, macht nur etwa ein Drittel der ästhetischen Erfahrung aus; die größere Glaubwürdigkeit kommt von der moralischen Botschaft, die sich aus einer Story herauslesen lässt.
Einen gewissen Zwiespalt offenbart der Beitrag von Daylor Ramos, dem Partner von Tony Zhou bei Every frame a Painting. Er hat sich zur Aufgabe gemacht, die derzeit so populäre Serie gegen den Film bzw. das Kino zu verteidigen, eine schwierige Mission, weil sich für beides per se genügend Argumente finden lassen, die der anderen Seite nicht widersprechen. Das Dilemma liegt an Plattformen wie Netflix selbst, die einerseits die Institution Kino gefährden, andererseits auch wieder unterstützen, wenn sie es “erklären”: Die Verantwortlichen der besprochenen Serie waren so frei, das Ganze “A Collection of Visual Essays – For the Love of Cinema” zu untertiteln.
Von einem weiteren Highlight der Serie gilt es zu berichten. Der Autor und Produzent Walter Chaw hat sich um 48HRS. (Walter Hill, 1982) gekümmert, jenem Buddy-Movie, in dem Nick Nolte als gutmütiger, doch auch ungestümer und cholerischer Cop agierte, der Debütant Eddie Murphy hingegen seinen Aufstieg zum schwarzen Superstar begann. Chaws Lesart geht weit über den Film hinaus, indem sie sich auf Murphys Figur konzentriert: Reggies zotige, immer coole Sprüche reihen sich danach auf zu einer “Konversation über Rasse und Identität” im seinerzeitigen Amerika; dazu nennt Chaw wenige Vorgänger und zahllose Nachfolger dieses interracial buddy movie. Es ist eine symptomatische Lesart – die Methode, die einst Siegfried Kracauer kultiviert hat, hier demonstriert an einem Film, der die große Qualität jedes gelungenen Hollywoodfilms auf ein Begriffspaar bringt: Profane and Profound.
Man darf sich auf weitere Folgen freuen, auch wenn die Serie im Ganzen noch nicht wirklich einen roten Faden, ein erkennbares Konzept aufweist. Was hoffnungsvoll stimmt, ist der allein Versuch, etwas für das Verständnis von Filmen (und ein wenig des Kinos selbst) zu unternehmen. Große Streaming-Plattformen hätten hier echte Verdienste in Aussicht, in Formaten, die es sonst schwer hätten an ein breites Publikum zu kommen. Hier noch ein Hinweis auf einen Langfilm, der genau das versucht: Memory – The Origins of Alien/Über die Entstehung von Alien (Alexandre O. Philippe, USA 2019) nimmt sich einen weiteren Schlüsselfilm der Spätmoderne vor, und daraus wiederum eine Schlüsselstelle, die sogenannte chestburster scene, als das Alien als Horrorgeburt aus der Brust des Astronauten Kane herausbricht. Bisher hat man das Artwork von Alien vor allem mit dem Schweizer Illustrator HR Giger assoziiert, der einen Roman des Kultautors H.P. Lovecraft in seine eigenartige Bildsprache übersetzt hatte und dann auch am Film mitarbeitete. Memory gibt eine elektrisierenden Hinweis auf einen echten Meister, der wohl nie einen Screen credit beansprucht hat: auf den Maler Francis Bacon. Das ist sowohl als Entdeckung wie auch in seiner Wirkung eine Sensation.