FILMTIPP #99: TRE PIANI/DREI ETAGEN VON NANNI MORETTI (ITALIEN 2021).

Alba Rohrbacher, im Kino fotografiert

Die ersten Bilder von Tre Piani wirken wie der Blick auf einen Billardtisch, auf dem die Spielkugeln in schöner geometrischer Ordnung liegen. Dann saust eine weite­re Kugel ins Bild, zerstört die Symmetrie, alle anderen Elemente geraten in Aufruhr und kom­men erst im Lauf des Geschehens an einem neuen Ort zur Ruhe. Einige verschwinden ganz.

In der Gestalt des Films ist die störende Kugel ein kleiner PKW, an dessen Steuer der junge Andrea sitzt. Er ist betrunken und überfährt in vollem Tempo eine Frau, ehe das Auto in einem Schaufenster zum Stehen kommt; noch so eben konnte sich die hoch­schwan­gere Monica (wie immer leicht somnambul, aber beeindruckend: Alba Rohrwacher) an die Seite drücken. Mit ihren roten Haaren ist Monica der farbigste Fleck des Films, sie gliedert Anfang und Ende der zehn erzählten Jahre in einem großbürgerlichen Miets­haus in Rom, mit der Geburt je eines Kindes. Monica ist im Prinzip alleine, ihr Mann ist oft auf Montage und kann seiner Frau nicht wirklich helfen; in seiner Abwesenheit freundet sich Monica mit dem unwahrscheinlichsten Menschen an. Dieser Strang ist der bizarrste des Films, er schliesst stumme Dialoge mit einem Raben ein sowie Monicas vergebliche Versuche, Kon­takt mit der dementen Mutter zu be­kommen; später wird sie ihre ihre Familie verlassen, die trotz aller Entfrem­dungen nie ganz disfunktional wird.

Im zweiten Teil, der fünf Jahre später einsetzt, hat der Tod ein Problem bereits ge­löst: Andreas Vater, der selbst Richter war, ist nicht mehr da. Die Mutter ent­kommt auf diese Weise ihren Loyalitätskonflikten. In einem bewegenden Moment verab­schiedet Dora ihren toten Mann ein zweites Mal; die entsagende Geste begründet tat­sächlich kleine Erfolge, mit denen sie ihr Leben umstellen kann. Ihr Mann hin­ge­gen, von Moretti selbst maskulin prinzi­pien­treu dar­gestellt, war ein retar­die­ren­des Element der Erzählung. Mit dieser Figur ging es um Grund­sätzliches, um Schuld, Sühne und Ver­gebung, um echte Liebe vs. ge­sellschaftliche Räson. Mo­retti hat The­men früherer Filme wie den Tod eines Kin­des, eine spezifische römi­sche Bürger­lichkeit und vor allem die Verant­wor­tung des Ein­zel­nen gegenüber der Gemeinschaft – ein dräuen­des Problemunserer Zeit – noch einmal aufgegriffen. Was Tre Piani, nach einem Roman des is­raeli­ti­schen Au­tors Eshkol Nevo, aller­dings abgeht, ist jene tiefgegründete italieni­sche Leich­tig­keit, die Figuren in La Palom­bella rossa (1989) oder Caro Diario (1993) ent­wickel­ten und den 1953 in Süd­tirol geborenen Regisseur zum Seismo­gra­phen der Befind­lich­keit des politi­schen Italiens und zu einem führenden Intellektuellen des Landes machten.

Der Brennspiegel des Privaten fokussiert nun Lucio (Riccardo Scamarcio), der nicht nur so aussieht wie ein antiker Gott, sondern auch ähnlichen Zorn ent­wickeln kann: zunächst auf seinen alten Nachbarn Renato, der bisweilen auf Lucios Toch­ter aufpasst und wegen seiner Demenz mit dem Kind einmal nachts in einem Park landet. Lucio beschuldigt ihn daraufhin des Missbrauchs. Einige Zeit gerät er selbst in diese Bredouille, weil er spon­tan mit der minderjährigen Charlotte schläft, der Enkelin Re­natos. Das führt dazu, dass Lucio nach Renatos Tod von drei Frauen-Generationen geächtet wird, mit denen er zuvor auf dem denselben piano, zu deutsch Ge­schoss oder Etage, har­monisch zusammen gelebt hat. Nicht nur seine Ehe zerbricht an dem Fehltritt.

Kinder werden geboren, Alte sterben. Nicht darauf kommt es letzten Endes an, sondern auf das Haus, die Gemeinschaft, das Miteinander; viele Italiener denken noch in Kate­gorien der Fami­lie, sonst gibt es für sie wenig Soziales; aber auch hier ist die Familie ohne Patchwork-Ele­mente nicht mehr die Norm. Und nur Kinder, Küche, Kirche, das ist Ver­gan­genheit, mindestens für die Frauen von Tre Piani. Mo­retti wurde dafür gerügt, dass ihm sein hinterhältiger Humor neuerdings abgin­ge. Ich fin­de nicht nur seinen Richter, einen sich ge­kehrten, gefangenen Mann, be­ein­druckend. So will man nicht werden. Der Film ist ein Vielpersonen­stück wie die besten Filme Robert Altmans, und er schafft es tatsächlich, keine einzige seiner vielen Figuren zu vernachlässigen. Alle haben ihre Gründe so zu handeln, wie sie handeln, und jeder setzt dabei die eigenen Ziele nur ein wenig vor die der Ande­ren. In Can­nes, wo Tre Piani letztes Jahr im Wettbewerb lief, gab es minutenlang stehende Ovationen.

Der geschätzte Andreas Kilb hat den Film in seinem Festivalbericht in der F.A.Z. als Meisterwerk bezeichnet. Dem darf man sich anschließen, allerdings gilt das nur für die Ori­gi­nalfassung. Von der deutschen Synchronisation ist das Meister­werk ruiniert, die Geräusche, die Lippensynchronität, die Stimmen, nichts stimmt mehr. Ein Bei­spiel: Während selbst Deutschland weitgehend zum “Ciao” übergegangen ist, ver­abschieden sich die Italiener in der synchronisierten Fassung mit “Tschüss”. Wie um solche Nachlässigkeiten zu bestrafen, saß ich, wie in letzter Zeit häufig, ganz alleine im Kino.

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