FILMTIPP #94: FILMISCH REISEN (4). IN DIE KINDHEIT: BELFAST VON KENNETH BRANNAGH (UK 2021).

Gesehen im Kino Rouge et Noire, Palermo

Während an der Ostflanke Europas ein neuer, gefährlicher Krieg vom Zaun gebrochen wurde, nimmt uns Sir Kenneth Brannagh, sonst in den verderbten Welten William Shakespeares und Kurt Wallanders zuhause, mit zurück in seine Kind­heit nach Belfast. Es sind die späten 60er, und auch hier herrscht Krieg: Der Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Prote­stanten, letztere im Film die aggressivere Fraktion, der auch die Brannaghs angehören, ohne selbst im Geringsten militant zu sein. Die Meisterschaft von Belfast besteht darin, dass der Film die beiden Perspektiven übernimmt und doch voneinander trennt, die sich einer solchen autobiographischen Erzählung anbieten: die des neunjährigen Buddy, der die streitenden Parteien noch nicht so ganz genau unterscheiden kann (katholisches Schuldvergeben findet er z.B. ziemlich praktisch), der alle möglichen Erfahrungen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen macht und alle mit dem gleichen Maß bewertet – sowie die Rückschau des Regisseurs, der diese Sicht mit der Souveränität des Historikers ausüben könnte und doch, im Gegensatz zur nüchternen Geschichtserzählung, im Kino mit dem Entfachen von Emotionen arbeitet.

Die Eingangssequenz macht das Prinzip deutlich: Ansichten der Hafenstadt Belfast in gewagter Kadrierung und in Farbe, wie sie der touristische Blick entwickelt, der die objektive Schönheit einer fremden Stadt sucht (doch, doch, es gibt objektive Kriterien für Schönheit: dazu dienen die Gestaltgesetze ebenso wie der historisierende Vergleich einander ähnlicher Objekte). Dann fährt der Kamerakran über eine Mauer, das Bild wird schwarzweiß, fortan gibt es viele Bilder von der Handkamera und aus leichter Untersicht: So wird die Weltsicht des Jungen plausibel. Der erlebt Vorstellungen, Ideale, in statu nascendi und wiederum in Farbe, und zwar im Kino (wer kennt noch Chitty Chitty Bang Bang?) sowie in einer Theateraufführung von Dickens Weihnachtsmärchen. (Es gibt auch Schwarzweißfilme wie The Man who shot Liberty Valance und High Noon, aber die haben ihre Erwachsenenmoral und bleiben Buddy fremd; hier wechselt Branagh die Perspektive.) Die Buddy beeindruckenden, performierten Spektakel sind bunter und schriller als die reale Welt. Und sie bringen ihre eigenen Wahrheiten hervor, die für den Jungen wie den erwachsenen Regisseur möglicherweise sogar mehr zählen als das, was tatsächlich passiert und den Lauf der Dinge verändert. Der Filmwissenschaftler Thomas Koebner hat soeben in einem Buch zusammengefasst, wie Erinnerungen im Kino gestaltet werden, seiner Liste könnte man Belfast mit einem ganz eigenen Ansatz hinzufügen.

Buddys Welt ist ein kleines Ghetto, das der Film nie verlässt. Hier leben Katholiken und Protestanten eigentlich friedlich zusammen; doch es bedarf nur einiger Fanatiker, um die Erschütterungen auch hierher zu bringen: Es gibt radikale Protestanten, die Buddys Vater erpressen, um ihn in den Kampf hineinzuziehen. Der finale Showdown, den Buddys Sicht wieder überhöht, gleicht ein wenig einem Clip, der den Vater und den ansonsten blassen Bruder zu glorios erinnerten Superhelden macht. Die Eltern sind Fixpunkte in Buddy Leben, obwohl sie viel darüber streiten, ob man endgültig weggehen oder bleiben soll; die Mutter sammelt die Zusagen ausländischer Firmen, die den Vater anheuern würden. Der arbeitet schon in England und kommt nur jedes zweite Wochenende heim, ist aber für seine Söhne da, wenn es darauf ankommt. Emotionale Fixpunkte gibt es freilich noch andere: eine zarte Liebe deutet sich an, die der Neunjährige behutsam pflegt, vor allem sind da aber „Pop“, der lebenskluge Großvater, und die raue, unvergleichliche Oma (man muss die 87-jährige Judi Dench sehen, wie sie von ihrer Filmtochter die Treppe hochgeschoben wird). Das alles wird zu einem Kokon aus politischen und privaten Ereignissen. Der Blick des Historikers gilt dabei so viel wie der Wunsch des Jungen, zu einer älteren Bande gehören zu wollen und daher Kaugummis und Schokolade klauen zu gehen, was prompt schiefgeht und was man genau darum ein Leben lang nicht vergisst.

Und dann ist da noch eine weitere, eigene Ebene, die mythische, für die man diesen Film besonders mögen kann. Kenneth Brannagh, der Belfast im Alter von 10 Jahren mit seinen Eltern (wie im Film) tatsächlich verließ, hat sich mit einem anderen Ex-Pat zusammen getan, mit Van Morrison, der diesen Schritt nach seinen ersten Erfolgen als Musiker getan hat. Morrisons Musik gliedert den Film; er hat den instrumentalen Soundtrack geliefert, ein weiches, melancholisches Sax-Impro, und ältere sowie einen neuen Song zur Verfügung gestellt: The beauty of the days gone by ist das ewige Thema Morrisons, und erzählt werden auch von ihm, um das zu klären, The days before Rock’Roll: Bevor Morrison mit der äußeren auch die innere Heimat der Kindheit hinter sich ließ, die mit diesem Films eindrucksvoll aufersteht, um, zum Fremdsein verdammt, das verlorene Gefühl doch immer wieder aufzurufen. There’ll be days like this. Mit Belfast erhält nun die Welt vor Madame George ein Gesicht, die abendliche Atmosphäre der Cypress Avenue, with a childlike vision leaping into view.

In seinem Song Choppin‘ wood hat Van the Man eine ähnliche Erfahrung wie Brannagh angedeutet: sein Vater habe einmal versucht, in Detroit zu arbeiten, eher er zurückkehrte: And you came back home to Belfast / So you could be with us like / You lived a life in quiet desperation on the side / Going to the shipyard in the morning on your bike. Aus 55 Jahren und fast ebenso vielen Tonträgern Morrisons hat Brannagh wählen können, wie er jene ewige Reise Into the mystic musikalisch illustrierte; er hat sie am Ende gemäß der Wahrnehmung seines neunjährigen Protagonisten nicht über den Glanz des Celtic Ray erstrahlen lassen, sondern alles ganz handfest an der Story orientiert: On the bright side of the road wohnt die blonde katholische Prinzessin, die Buddy anzieht. I‘m in heaven when you smile. Es ist keine klassische Religion mehr, die Van und Buddy und Kenneth trösten können, sondern das sichere Wissen, in tune zu sein mit seinen Gefühlen, seinen Überzeugungen und seinen Wünschen, das ganze Leben lang. Ein solcher Film darf dann auch den ganzen Abspann über der Gewissheit Ausdruck verleihen, dass jeder Tag durch Kunst, Film, Musik und ähnliches bereichert werden kann. And the healing has begun.

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